„Inglourious Basterds“ handelt nicht wie immer wieder kolportiert vom Holocaust, sondern von der Diaspora. Nicht nur der jüdischen, sondern als eine Art globaler „Gemütszustand“. Entwurzelung, Heimatlosigkeit, Nomadendasein, Entfremdung, Deplatziertfühlen, Heimweh, Verlust der Kontrolle über den eigenen Lebensraum aber auch Erschließung neuen Lebensraums: Aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Intensität betrafen diese Zustände massenhaft europäische Juden, Roma und Sinti, andere Europäer – auch Deutsche – , Japaner (in ihrem eigenen Land und die, die vorher in Amerika versuchten, eine neue Heimat aufzubauen) und amerikanische Soldaten (die wiederum eh schon verschiedenster Herkunft sind).
Unter der Oberfläche der Rachefantasie und der Versatzstücke aus men-on-a-mission-Filmen (wie der Namensonkel „Ingloroius Bastards“ und „The Dirty Dozen“) brodelt ein vielleicht intuitives Wissen und auch teilweise ein Unbehagen über diese Aspekte des WWII und der Globalisierung schlechthin.
1. Leben und Werk
Eine der faulsten Kritiken an Quentin Tarantino ist, dass er ein reiner Filmnerd (oder wenigstens Popkulturnerd) ist, dessen Filme sich fast ausschließlich aufs Kino beziehen, ohne Relevanz für die reale Welt, weil ja keine reale Welterfahrung gemacht und dann verarbeitet wird. Ebendiese reale Welterfahrung sieht folgendermaßen aus: Gebürtig in Knoxville, Tennessee geboren, hat er seine Kindheit und Jugend teilweise in Knoxville, teilweise in Los Angeles verbracht. Man muss gar nicht die Scheidung, den Cherokee-Anteil oder irgendwelche Küchenpsychologie bemühen, um festzustellen, dass er sich vielleicht ein bisschen mit heimatlicher/häuslicher Instabilität und Fremdheit auskennt. Zumal in seinem Werk genug Spuren zu entdecken sind, ohne dass diese Themen jemals im Vordergrund stünden.
Es gibt in seinen Filmen immer wieder Leute, die eine Zeit lang weg waren, die sich nicht ganz zuhause fühlen, die Fremdkörper sind: In „Reservoir Dogs“ kommt Mr. Blonde gerade frisch aus dem Gefängnis, ganz zu schweigen vom ultimativen Fremdkörper, dem Undercovercop; in „Pulp Fiction“ kommt Vincent Vega bekanntermaßen gerade aus einem mehrjährigen Amsterdam/Europa-Aufenthalt zurück, dann gibt es noch einige Europäer und mit Butch auch ein paar Anspielungen auf Knoxville, Tennessee, wo sich Tarantino vielleicht doch etwas heimisch fühlte, so sehr scheint es immer wieder Bezugspunkt zu sein. In „Jackie Brown“ kommt Louis gerade aus dem Gefängnis und die Hauptfigur ist eine Flugbegleiterin, also eine Figur in ständigem Transit. In „Kill Bill“ ist bezeichnenderweise die Chefin der japanischen Yakuza zum Teil chinesisch, die Heldin war jahrelang im Koma, und Bills großer Monolog handelt (unterschwellig) davon, wie fremd Superman auf der Erde ist, wie sehr seine eigentliche Identität die eines Aliens ist. In „Death Proof“ gibt es in beiden Teilen des Films eine Frau, die von außerhalb kommt, in der zweiten Geschichte, die in Tennessee stattfindet, ist die „Fremde“ z. B. aus Australien. Auch in seinen anderen Filmen bzw. Drehbüchern sind diese roten Fäden zu entdecken und die genannten Filme ließen sich diesbezüglich noch weiter aufdröseln – allerdings ohne dass es jemals thematisch, subtextuell wirklich von Bedeutung wäre. Bis jetzt in IB.
2. Kontrolle des Raums
Landa benötigt in der inzwischen zurecht legendären Anfangsszene keine Landkarte, aber er übernimmt sichtlich die Kontrolle nicht nur des Wohnraums der Familie Padite, sondern scheint die ganze Gegend mit ihren verschiedenen Kuhbauernfamilien – von denen einige jüdischer Herkunft waren – zu beherrschen. Und auch wenn er zur Auslöschung der versteckten jüdischen Familie keine Karte benötigt, so lässt er sich doch zeigen, wo unter dem Holzboden sie sich aufhält. Das wird dann parallelisiert in der ersten Szene, in der wir die Basterds im Einsatz sehen, als Aldo einen Nazi „bittet“, ihm auf seiner Landkarte zu zeigen, wo sich ein Nazi-Hinterhalt versteckt hält.
2.1. Exkurs: Der Bärenjude aus Boston mit dem Baseballschläger
Im Drehbuch gibt es eine kleine „Origin“-Geschichte des Bärenjuden, der aus Boston kommt. Seine Herkunft wurde im Film in seinen kleinen Monolog „verwoben“, denn er redet über Baseball, was zu dem Zeitpunkt der Nationalsport der USA war, somit popkulturelles Gesprächsthema Nummer 1 (quasi das 40er-Jahre-Äquivalent zu Popsongs), aber vor allem auch ein Sport für Lokalpatriotismus, gerade für Bostoner, er spricht also über Boston-spezifischen Baseball. Ob Tarantino dabei bedacht hat, dass es beim Baseball um Heimat (Homerun) und Kontrolle des Raums geht, das Spiel also auch subtextuelle Resonanzen hat, ist unklar, aber auch nicht wirklich wichtig. Passenderweise ist es auch ein Sport, der für jüdische Amerikaner eine sehr große Rolle spielt.
Nicht nur, dass die Darstellung Hitlers komplett parodistisch angelegt ist, er wird bei seinem ersten Auftritt komplett der Lächerlichkeit preisgegeben, indem er sich in einem Raum befindet, an dessen Wänden riesige Karten hängen (und gerade ein riesiges „Königsporträt“ von ihm gemalt wird), die seine Eroberungen/Besetzungen aufzeigen, was aber räumlich so inszeniert ist, dass er unglaublich klein und erdrückt aussieht, ein bisschen wie die kleinen Männer der Coen-Brüder bzw natürlich auch Chaplins „Kleinkriegen“ des größenwahnsinnigen Eroberers in „The Great Dictator“.
Ein anderer Raum mit Karte ist der englische Planungsraum, in dem Lt. Hickox – im Zivilleben ein Filmkritiker mit Schwerpunkt auf deutschem Kino – zu einem Whiskey aus dem Globus-Getränkebehälter über Operation Kino und das Treffen mit der deutschen Filmdiva und britischen Agentin Bridget von Hammersmark in dem französischen Dorf Nadine informiert wird – mit für diese Art von Filmszene obligatorischem Zoom auf ebendieses Dorf auf der riesigen Landkarte. Da dieses Treffen, an dem auch die Basterds beteiligt sein sollen, in einer Kellerkneipe stattfinden wird, ist Aldo aufgrund der strategisch misslichen Lage wenig begeistert. Man kann den Raum schlecht kontrollieren, um das zu thematisieren braucht man keine Landkarte, genauso wie man kein Stonewall Jackson sein muss, um das zu wissen. Entsprechend aus der Kontrolle gerät auch die Situation in der Taverne (siehe Punkt 3).
Im Zusammenhang mit dem Kino als Nazi-Aufführungsort – als eine weitere räumliche Eroberung und Belagerung – geht es auch viel darum, dass Hans Landa als Sicherheitschef die Kontrolle übernehmen muss, das Kino kennen muss, und dabei dann auch Shosannas Büro „besetzt“; wie gut, dass ihn die für Shosannas Plan entscheidenden Räume nicht interessieren – oder ignoriert er sie bewusst?
In gewisser Weise handelt auch der Propagandafilm von räumlicher Kontrolle, denn wäre der Scharfschütze nicht in dem Turm, von dem aus er im wahrsten Sinne des Wortes den Überblick behält, sprich auch die Oberhand über die Feinde, dann hätte er nicht als feindmassenmordender Held überlebt.
3. Die Taverne
In dem französischen Dorf Nadine in einer Taverne im Keller namens La Louisiane wird der Subtext des Films zum Text. Tarantino führt gleichsam das Publikum zusammen mit einigen der Helden in einen Raum bestehend aus einem Geflecht aus Bedeutung und Referenzen, die aber nicht leere Information sind, sondern wiederum das Bedeutungsgeflecht „texturieren“. So erinnert die Szene etwas an die Jack-Rabbit-Slim’s-Szene in „Pulp Fiction“. Die Referenzen sind auch hier popkultureller Natur, aber eben spezifisch deutsch und zeitgemäß.
Man könnte die bei den „Wer bin ich“-Spielen frei flottierenden Referenzen sicherlich gewinnbringend recherchieren (z. B. Genghis Khan, der Eroberer, oder Mata Hari, die Doppelagentin), aber die zwei Hauptspiele quillen schon über vor subtextuellen Resonanzen: Der Frankfurter Soldat Wilhelm, der gerade Vater geworden ist, also naturgemäß heimweh hat, ist der fiktive Apachen-Häuptling Winnetou. Nicht nur die Apachen-Anspielungen im Rest des Films sind hierbei relevant, sondern auch, dass die Ureinwohner Amerikas natürlich eine den Juden ähnliche Nomadenkultur sind, die außerdem so einiges an Genozid, Ghettoisierung (Reservate) und Vertreibung, also Diaspora verursacht durch Europäer und dann Neu-Amerikaner erleiden mussten. Innerhalb des Spiels entfacht sich außerdem eine für diese Interpretation sehr interessante Diskussion, ob die Herkunft der Fiktion oder die (deutsche) Herkunft des Autors (Karl May) entscheidend ist. Wem das dann zu „geschrieben“ wirkt, sollte sich an eigene Diskussionen über die Auslegung von Spielregeln erinnern. Was natürlich sehr trefflich „geschrieben“ ist, ist, dass die entscheidende Begründung für den Vorzug der fiktiven Herkunft gegenüber der auktorialen von niemand geringerem als der Schauspielerin/Doppelagentin Bridget von Hammersmark gegeben wird, die sich hier also quasi gegen die eigentliche Herkunft positioniert.
Wenn dann der Gestapo-Offizier – der eine Art absolutes Gehör für deutsche Dialekte und Akzente hat, das ihm erlaubt, relativ präzise Herkunftszuordnungen zu machen, der aber an dem britischen Agenten scheitert, der eben nicht mit britischem Akzent deutsch spricht, den er dann als (seiner Verkleidung entsprechend) Hauptsturmbannführer (engl. „Captain“) Heimatlos bezeichnet – in dem Identitätsspiel „King Kong“ ist, dann würde das wahrscheinlich genug mit den Themen des Films resonnieren – er betont das aber noch, indem er auf eine Art die Fragen stellt, dass eine Interpretation des Films zugrunde zu liegen scheint, die die Versklavung und Verschleppung von Afrikanern thematisiert, was wiederum mit einigen rassistischen Bermerkungen der Nazis, mit dem afrikanischstämmigen Marcel, mit Tarantinos Faible für afroamerikanische Geschichte und Kultur und natürlich der Parallelisierung mit den Juden in Einklang zu bringen ist.
Abgesehen von den popkulturellen Referenzen könnte man auch darüber nachdenken, dass der Barkeeper ein Deutsch-Franzose zu sein scheint, seine Kellnerin die einzige Französin in der Taverne ist, die noch dazu sprachlich vollkommen überfordert ist (sie kann kein Deutsch wie ihr Chef) und dem Massaker (fast schon der Krieg in metonymischer Form) ziemlich brutal zum Opfer fällt. Und die einzige Überlebende ist sicherlich nicht nur aus dramaturgischen Gründen die Mata Hari dieses Films und die treibende Kraft hinter der Operation Kino – Bridget von Hammersmark.
4. Utopie Kino
Das Kino ist hier nicht nur ein Ort, an dem dem Eskapismus gefrönt wird, sondern im wahrsten und tiefsten Sinne des Wortes ein Zufluchtsort, nicht nur für die flüchtige Jüdin Shosanna, sondern sicherlich auch für ihren Freund und Projektionisten Marcel, ein gebürtiger Franzose afrikanischer Abstammung (der Schauspieler ist in Burkina Faso geboren). Es ist also schon eine Art utopischer Raum für ganz konkret politische Flüchtlinge, aber eben im Allgemeinen (außerhalb des Films) für Menschen, die dem Alltag entfliehen wollen – aus welchen Gründen auch immer. Und am Ende ist es ein Ort, der dazu genutzt wird – von zwei unabhängigen Parteien –, die Nazis zu vernichten und somit ihr dystopisches drittes Reich zu beenden.
Interessanterweise entspricht dieses spezifische Kino der eigentlichen Bedeutung des Wortes „Utopie“: Es ist ein Nicht-Ort, es ist wie so viele fiktive Orte in Filmen ein Amalgam aus gefundener Location (für Außenaufnahmen) und gebauten Kulissen. Bemerkenswert ist das vor allem auch, weil wir so viele einzelne Raumaspekte dieses Kinos zu sehen bekommen, nicht nur den Kinosaal und den Eingangsbereich, sondern auch u. a. den Projektionsraum und diesen kleinen Raum hinter der Leinwand – der Ursprung des Bildes und hinter dem Bild sozusagen. Hinter dem Bild dieses Filmes steckt die Essenz des Kinos. Der Geist des Kinos ist weiblich, jüdisch, so erhaben wie flüchtig, lässt die Luft vor Emotion (wie Wut) und feuriger Leidenschaft vibrieren und lacht Tod und Teufel ins hässliche Gesicht.
5. Nachspiel
Dass es dem Film gar nicht so sehr um die Rache an den Nazis geht, merkt man auch daran, dass das Kino für eine durchaus längere Szene verlassen wird, in der der eigentliche Bösewicht des Films mit den Amerikanern den Ausgang des Krieges – das Gelingen zumindest des explosiven Plots „Operation Kino“ – und sein Leben im amerikanischen Exil verhandeln will. Und nach dem furiosen Finale kehren wir wieder zu diesem Erzählstrang zurück. Was die Nazis und vor allem auch Hitler im Kino „erleben“, ist gar nicht so exzessiv brutal, wie Tarantino könnte: Vergleichsweise dann doch wenig Zeitlupe und Squibs, und das Brennen hätte auch qualvoller sein können. Die Öffnung der Bundeslade in „Raiders of the Lost Ark“, die Roger Ebert als jüdische Rachefantasie interpretiert, ist eigentlich brutaler, phantasmagorischer und nachhaltiger in der Wirkung.
Dem Film geht es also gar nicht um den spezifischen historischen Nationalsozialismus, der eben mit Hitler und seinen Schergen tatsächlich zu Ende ist, auch nicht um den spezifischen historischen Faschismus, der mit Mussolini zu Ende ging. Es geht ihm auch nicht um den menschenverachtenden Totalitarismus, der hinter dem Stalinismus z. B. steckt, sondern um den modernen Smiley-Faschismus, der lacht und rumblödelt, der intelligent und charmant ist, der sich weltgewandt und kosmopolitisch/globalistisch (antisemitisch konnotierte Begriffe) gibt, der sich hinter dem ordnungsbewussten, banalen Saubermann wie Eichmann oder eben dem möglichen neuen Bewohner der amerikanischen Insel Nantucket verbirgt: dieser eiskalte, berechnende, antisemitische und auch auf andere Menschen verächtlich herabblickende, wenn es sein muss nicht nur gewaltbereite, sondern geradezu sadistisch brutale Opportunist, der mit Hans Landa seine ewig gültige fiktive Verkörperung erhalten hat. Und um die „Diaspora“ einzelner Gruppen aber auch einzelner Menschen als unveränderlicher Zustand. Die Juden haben über Jahrtausende gegen extremste Widerstände doch gezeigt, wie das nicht unbedingt ein negativer Zustand ist. Tarantino hat als wirklich international tätiger Regisseur (IB ist eben auch ein sehr europäischer, gar deutscher Film) gezeigt, dass das Leben eines Kosmopoliten nicht den „Bösen“ überlassen werden muss bzw. von ihnen als schlecht definiert wird.
Es gibt genredefinierende, stilprägende, technisch epochemachende Filme. Es gibt Filme, die ihrer Zeit mal mehr, mal weniger weit voraus sind. Aber es gibt auch Filme, die wirken wie aus einer anderen Zeit gefallen und treffen erst mal unbemerkt den Puls der Zeit, allerdings nicht nur eines kurzen Zeitraums (in dem sie trendy und zeitgeisty sind), sondern eines längeren unbestimmten Zeitraums. Solch ein Film ist „Inglourious Basterds“ für das 21. Jahrhundert, das Jahrhundert der endgültigen Globalisierung, weiterer Genozide, Vertreibung und Flucht ganzer Völker, offen erstarkendem Antisemitismus, offen erstarkendem Nationalismus: ein – vielleicht der – Jahrhundertfilm.
Hier gibt es einen weiteren Text zu „Inglourious Basterds“, hier 27 Tarantino-Momente.