Diese Jugend kennt sich selbst nicht. Wenn Wanja, gefangen zwischen Wahn und Delirium, zu Beginn des Films frontal in die Kamera schaut, während Lichtblitze sein Gesicht fragmentieren, gilt sein fragender, desillusionierter Blick auch uns, den Eltern, der Familie, der Gesellschaft. Kurz darauf steigt der unberechenbare junge Mann über das Geländer des Balkons und sein Kumpel Petja sagt gelangweilt und gleichgültig zu ihm: „Wenn du springen willst, spring.“ Einen Augenblick später ist Wanja tot. „Es war die Angst“, versucht Petja später den Selbstmord seines Freundes zu erklären. Doch Lebensüberdruss, Langeweile und Perspektivlosigkeit sind in Alexander Gorchilins Spielfilmdebüt „Acid“ (Kislota) nur Symptome einer tiefer liegenden Unsicherheit. Die driftenden, bindungslosen Jugendlichen erreichen sich selbst nicht, obwohl ihnen alle Möglichkeiten in der postkommunistischen russischen Gesellschaft offen zu stehen scheinen.
„Ich bin willenlos“, sagt wiederum Sascha, der in einem gutsituierten Wohlstandsmilieu bei seiner Großmutter lebt. Gemeinsam mit Petja nimmt er an Wanjas Beerdigung teil. Dann schneidet Gorchilin vom fahlen Licht des Friedhofs zu den Stroboskopblitzen einer Disco, wo die monotonen, dumpfen Techno-Beats als destruktive Begleitmusik zu den Schwundstufen der Lebendigkeit fungieren. „Why does my heart feel so bad? Why does my soul feel so bad?, singt Moby an anderer Stelle. Während einer Polizeirazzia in der Disco – ein Reflex auf die tradierten Schikanen des Staatsapparates – lernen die beiden Freunde den privilegierten Künstler Wasilisk kennen. Dieser ist ein Chamäleon, das sich ganz auf die marktkonformen Regeln der neuen Zeit eingestellt hat. Mit der titelgebenden Säure deformiert er die staatstragenden, im Stil des sozialistischen Realismus gestalteten Skulpturen seines Vaters. Wasilisk will provozieren, um zu verkaufen. Als Verfechter des Scheins rät er den beiden Jüngeren: „Sei interessant!“
Man könnte sagen, Sascha und Petja sind interessant, weil sie sich selbst verstümmeln. Sascha, der sich als Musiker versucht, hat sich aus einem nicht genannten Grund beschneiden lassen und will die Beziehung zu seiner Freundin Vika lösen. Dann lässt er sich mit der erst 15-jährigen Balletttänzerin Karina ein und gerät darüber in heftigen Streit mit dem Vater des Mädchens. Petja hingegen verletzt sich mit erwähnter Chlorsäure und zeigt sich als Mörder Wanjas bei der Polizei an. Bei aller Unberechenbarkeit und Destruktivität, die Alexander Gorchilin seinen Protagonisten angedeihen lässt, scheint ihr Empfinden von Schuld und Ungerechtigkeit noch intakt zu sein. Das Problem ihrer Generation sei, dass sie kein Problem habe, sagt Petja einmal sinngemäß. Und er fragt: „Was können wir der Welt geben?“ Trotz Gorchilins nihilistischem Blick auf die Jugend und Gesellschaft seines Landes, ist sein beeindruckender Film „Acid“ weder unversöhnlich noch hoffnungslos.