Bereits Peeles „Get Out“ (USA 2017) spielte in Ira Levins Stepford-Gefilden. War es dort derselbe Körper, der einen anderen Geist beherbergen musste, so ist es in Peeles zweitem Horrorfilm nun der gleiche Körper, der dennoch ein anderer Körper ist: Deren Geister scheinen indes ein und derselbe zu sein, ehe eine Entkettung einsetzt.
Alles beginnt in den 80er-Jahren: Ein „Hands Across America“-Spot läuft auf einem von Videokassetten gerahmten Bildschirm. Ein zunächst bloß von Zeitkolorit geprägter Beginn, der aber im Rückblick verheißungsvoll erscheint. Mit einem Sprung auf einen Rummelplatz in Santa Cruz setzt „Wir“ die ausgelassene Werbespot-Atmosphäre zunächst fort, die sich dann aber mit effektiver Tonspur und bedrohlichem Nachthimmel zunehmend in schleichendes Grauen verwandelt, als sich die kleine Adeleide unerlaubt von ihren Eltern entfernt, in ein abgelegenes Spiegelkabinett am Rande des Strandes eindringt und dort nicht bloß auf Spiegelbilder, sondern auf ein Double ihrer selbst – mit unheimlichen Eigenleben – trifft. Jahre später kehrt Adelaide Wilson als erwachsene Ehefrau und Mutter zweier Kinder mit ihrer Familie an diesen Ort zurück. Widerwillig lässt sie sich zum Besuch des Strands überreden, wo das Spiegelkabinett von einst lauert, derweil sich böse Omen an jeder Ecke abzeichnen. Und als sie ihre Kindheitserinnerungen am Abend erstmals ihrem Mann anvertraut, der sie kaum ernst nimmt, ist es bereits zu spät: Doppelgänger der Familie dringen gewaltsam ins Ferienhaus ein und der Film gerät nach seiner langen Einführung und dem diffusen Unbehagen zum home-invasion-Thriller, der seine Richtung später noch einmal in apokalyptische Sci-Fi-Horror-Gefilde ändert.
Ursprünglich war der Doppelgänger noch positiv konnotiert: Als Verdopplung des Individuums verhieß er auch dessen Potenzierung. Spätestens seit der Romantik wandelte sich dieser Blick: Der Doppelgänger war nun Ausdruck des Identitätsverlusts, der Selbstauflösung. Wenn Adelaide erstmals über ihre Doppelgänger- oder Spiegel- oder Schatten-Erfahrung spricht, ist sie bereits nur noch als aufgelöster Körper zu sehen: als transparentes Spiegelbild auf der Fensterscheibe. Da der Horror im leeren Spiegelkabinett beginnt, scheint es zunächst angemessen zu sein, vom lebendig geworden Spiegelbild auszugehen, welches das Kino spätestens seit dem „Student von Prag“ (D 1913/1926/1935) immer wieder heimsucht. Doch sitzen sich die Wilsons und ihre Doppelgänger im home-invasion-Teil des Films erst einmal gegenüber, dann ist in den Großaufnahmen Lupita Nyong’os eine kleine Trübung in ihrem linken Auge zu erkennen, die sich auch bei ihrer Doppelgängerin im linken Auge abzeichnet. Keine eindeutig übernatürlichen Doppelgänger also, die als losgelöste Spiegelbilder à la E. T. A. Hoffmann (oder als losgelöste Schatten à la Adelbert von Chamisso) ein Eigenleben entfalten, sondern wie unheimlich-unerklärliche Zwillinge auftreten.
Da Texttafeln über geheimnisvolle Tunnelsysteme unter der US-amerikanischen Oberfläche dem Film vorangegangen sind und weil weiße Versuchskaninchen die Titeleinblendung zierten, führt der Film umso deutlicher weg vom unheimlichen Doppelgänger der Romantik – zur Dystopie und zum Klonen. Dass unter den erwähnten Videokassetten zu Beginn des Films auch Douglas Cheeks „C.H.U.D.“ (USA 1984) zu sehen war, erweist sich nun als cleveres Zitat: Bei Cheek dringen Cannibalistic Humanoid Underground Dwellers aus den Tunnelsystemen unter den Straßen an die Oberfläche. Diese Wesen, die unter der Erde hausen und nun emporsteigen, sind dort keinesfalls teuflische, dämonische Kreaturen wie noch in Clive Barkers oder Lovecrafts Fantasien über Monstren in den U-Bahn-Tunneln. Sie sind menschliche Produkte, menschengemachte Überbleibsel obskurer Experimente, die nach langer Verdrängung endlich an die Oberfläche geraten: Opfer der Mächtigen, die in den meisten Dystopien à la „Metropolis“ (D 1927; Regie: Fritz Lang) unter der (Erd-)Oberfläche verdrängt ihr Dasein fristen. Bei Peele sind es Verkettete: Doppelgänger, die unter der Erde das Leben ihrer Originale kopieren müssen und die man ursprünglich zur Kontrolle der Originale nutzen wollte.
Dass „Wir“ seine ominösen Menschenexperimente an keiner Stelle detailliert ausbreitet, wenn er nach dem home-invasion-Teil an diesem neuen Abschnitt anlangt, ist ein geschickter Schachzug: all die notwendig auftauchenden Fragen und Unsinnigkeiten, die sich ergeben, sofern man über die konkrete Handlungsebene nachzudenken beginnt, werden beiseite geschoben und stattdessen dringt der Subtext an die Oberfläche: Die Doppelgänger agieren hier ganz wie George A. Romeros Zombies als Abbild der Gesellschaft, das sich nicht einfach bloß gegen ebendiese wendet, sondern zugleich als ihr Opfer in Erscheinung tritt. Hier wird dem titelgebenden „Wir“ ein Ihr entgegengestellt, das eigentlich mit dem Wir in einem größeren Wir, einem Wihr gewissermaßen, aufgehen könnte – aber nicht aufgehen kann.
Adelaides Doppelgängerin Red ist dabei ebenso Anführerin einer Revolte wie der ebenfalls farbige Big Daddy in Romeros „Land of the Dead“ (USA/F/CAN 2005). Doch Romeros Big Daddy ist ein (untoter) Tankwart, der berechtigten Neid verspürt und Klassenbewusstsein entwickelt. Red hingegen – so lautet ihre Erklärung – verdankt es dem Ballett, dass sie und die übrigen, zahllosen Doppelgänger sich der bloßen unterirdischen Repräsentation des Lebens an der Oberfläche zu verweigern beginnen: Der rein ästhetische Genuss als erstes widerständiges Moment. Jacques Ranciére würde sich freuen! Aber Peele hält sich nicht weniger an Pierre Bourdieu, denn erst ein zweiter Schritt – die Aufklärung der Ursachen für den Habitus der Doppelgänger – führt zur Überwindung dieses Habitus: Die Doppelgänger ahmen nicht mehr in ihren Höhlen das Leben an der Oberfläche nach (was ein wenig an Platons Höhlengleichnis erinnern mag, zumal auch hier das Dasein an der Oberfläche noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist), sondern sie streben nach Autonomie, verdrängen ihre Originale – mit brachialer Gewalt, gleichwohl sie dennoch über die Tragik der klassischen Halbwesen des Horrorfilms verfügen.
Am Ende gewinnt dann der Film entsprechend apokalyptische Züge. Und wenn nicht mehr bloß die afroamerikanische Familie, sondern auch die weißen Nachbarn mit Doppelgängern konfrontiert werden, wird verständlich, weshalb Peele den Film im Gegensatz zu „Get Out“ nicht als Werk über Rassismus und afroamerikanische Identität betrachtet. Die Thematik der Identität wird an der gesamten US-amerikanischen Gesellschaft verhandelt. Zwar lassen sich böse Spitzen auf die Unterschiede zwischen der farbigen und der weißen Familie kaum übersehen, im Vordergrund steht allerdings der konkrete Konflikt zwischen Originalen und rebellierenden Doppelgängern: Diese greifen zur Schere, um sich zu entketten. Die vertikale Verkettung mit den Originalen wird aufgelöst, stattdessen verketten sich die Doppelgänger untereinander, horizontal. Nach „Hands Across America“-Vorbild – bei dem man darüber streiten kann, wieviel Autonomie den Teilnehmenden in dieser Geste zukommt – ziehen sie sich als Linie durch das Land: in roter Einheitsfarbe. Das erinnert heute weniger an die bunte „Hands Across America“-Kette aus den Mitt-80ern, sondern eher an das lila Modell der trumpschen Mexiko-Mauer, die das mexikanische Estudio 3.14 unter Einfluss von Luis Barragán entworfen hatte.
In diesem Kontext muss man „Wir“ wohl betrachten, wenn er ein Bild des Fremden entwirft, das dem Eigenen gleicht: Was gleich ist, wird fremd gemacht. Und: Man braucht das Fremde, um die eigene Identität erst zu erlangen. Und: Die dadurch Geschädigten und ihre Methoden der Gegenwehr unterliegen nur zu oft demselben Prinzip. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen beiden Gruppen, den Eigenen, den Originalen und den Fremden, den Doppelgängern. Diese Unterschiede ergeben sich aber gerade durch die unterschiedlichen Lebensumstände (die zu großen Teilen menschengemacht sind). Ein (doppeldeutiger) Twist, der die psychologische Stimmigkeit des Films womöglich etwas irritiert, betont diesen sehr bourdieuschen Gedanken schließlich noch einmal ganz gewaltig.
Und weil Horrorfilme mit ausschließlich farbigen Hauptfiguren noch immer eine Rarität darstellen und als afroamerikanisches Kino wahrgenommen werden, ist es nahezu unvermeidlich, dass „Wir“ eben auch etwas konkreter als Film über Rassismus und afroamerikanische Identität gelten wird. Erst recht wenn man berücksichtigt, welche Umwälzungen in der Hollywood-Maschinerie in der Dekade von #BlackLivesMatter und #OscarsSoWhite begonnen haben.
Aber unabhängig davon, ob man das „Wir“ (und das „Ihr“ oder das „Wihr“) auf Nationalität, Hautfarbe, Altersklasse oder Geschlecht (denn „Wir“ spielt durchaus auch mit Geschlechterstereotypen, wenngleich seine gelegentlichen Brechungen selbst bereits klischiert anmuten) beziehen will: Der Interpretationsspielraum liefernde Horrorthriller packt als effektiver Genrefilm, der vom intimen home-invasion-Streifen zum apokalytischen (Sci-Fi-)Horror mutiert. Und er betört mit wunderbaren Bildflüssen, die geschickt mit Spiegelungen und Unschärfen arbeiten und von einer souveränen Montage verbunden werden, die immer wieder auch in die Vergangenheit zurückführt: wissend dass Fragen der Identität immer auch Fragen der Geschichte sind – weshalb sich auch „Wir“ selbst nur vor dem Hintergrund der Film- und Literaturgeschichte als das erkennen lässt, was er ist.
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Wir“.