Der Täter ist am spannendsten. Vor allem, wenn er oder sie bewusst gemordet hat. Was trieb ihn an? Welche gesellschaftlichen Verhältnisse bildeten die Basis? Die Opfer, gerade wenn nicht als Individuen ausgewählt, sondern willkürlich oder als Repräsentanten einer Gruppe, treten aufmerksamkeitstechnisch in den Hintergrund. Am schlimmsten traf es in jüngster Zeit bei uns die Opfer des NSU und ihre Freunde und Angehörigen. Sie wurden nicht nur missachtet, sondern kriminalisiert, verhöhnt, rassistisch verunglimpft. Noch bei der Urteilsverkündung ließ der deutsche Volkskörper die Muskeln spielen.
Als der Fascho Anders Behring Breivik 2011 in Norwegen Massenmorde beging, bekam auch er die meiste Aufmerksamkeit. Für die 69 von ihm auf der Insel Utøya erschossenen Jugendlichen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei gibt es heute zwar eine Gedenkstätte. Um ein weiteres Denkmal am Festland gegenüber wurde allerdings heftig gestritten. Einige Nachbarn befürchteten Neonazi-Pilger, andere eine Abwertung des hochpreisigen Baugrunds; jetzt soll der Baurat eine „zurückhaltendere“ Lösung suchen. Spätestens das Kapital tötet jedes Verständnis für Menschlichkeit.
Erik Poppes Film kann hier eine Lücke füllen. Keine Lücke im Denkmalbau, sondern in der Wahrnehmung. Quasi in Echtzeit lenkt „Utøya 22. Juli“ den Fokus auf den Terror und die Angst der Jugendlichen, während Breivik nur als Schemen vereinzelt auftaucht. Das geschickt angelegte Drehbuch von Anna Bache-Wiig und Siv Rajendram Eliassen basiert auf Interviews mit Überlebenden und entwickelt daraus eine repräsentative individuelle Geschichte. Diese soll den Zuschauer mit der fiktiven Figur Kaja nachvollziehen lassen, was die Teenager am 22. Juli 2011 durchmachten.
Ein lustiges Zeltlager. Geplänkel. Flirts. Unvermittelt Schüsse. Unsicherheit. Unwissen. Panische Angst. Das Hoffen auf Polizei und Rettung. Und das wahnsinnige Verzweifeln darüber, dass sie nicht kommen. Eineinhalb Stunden lang.
Einige Elemente des Films haben eine repräsentative Funktion: Menschen diskutieren am Infostand. Einzelne sterben hochdramatisch als Stellvertreter für viele. Viel dringlicher wirkt jedoch der Ansatz, den Zuschauer durch das Miterleben des unverschnörkelten Grauens in einen Zustand der Empathie für die dem Nazi Ausgelieferten zu versetzen. Empathie ist zwar noch keine Kritik, aber sie kann die Grundlage für Erkenntnis bilden.
Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 9/2018