Ein Amtsflur. Das Geräusch klappernder Absätze auf dem gewienerten Amtsfußboden. Ein Amtszimmer. Die Verhandlung über das Sorgerecht für den kleinen Sohn ist soeben im Gange. Die Mutter auf der einen, der Vater auf der anderen Seite.
Wir blicken in starre Gesichter. Es sind die Gesichter von Menschen, die einander fremd geworden sind und die neben ihrer jeweiligen Anwältin sitzen. Die Mutter will den zwölfjährigen Sohn nicht in die Obhut des Vaters geben müssen. Der Vater besteht darauf, ihn regelmäßig über die Wochenenden zu sich holen zu dürfen, ins Haus der Großeltern väterlicherseits, wo der Vater seit der Scheidung wohnt. Die Anwältin der Mutter sagt, der Vater habe in der Vergangenheit bereits der gemeinsamen Tochter Gewalt angetan. Die Anwältin des Vaters sagt, derlei habe nie stattgefunden. Aussage steht gegen Aussage. Wer lügt hier und wer sagt die Wahrheit? Der Vater hat am Ende Erfolg mit seiner Forderung, das Urteil fällt zu seinen Gunsten aus. Er darf seinen Sohn an Samstagen und Sonntagen zu sich holen.
Wir sehen ihn den Zwölfjährigen abholen, der nicht gerade begeistert wirkt, sondern beunruhigt, beleidigt, verstockt. Die Mutter und die Großeltern mütterlicherseits stecken angstvoll die Köpfe zusammen, agieren nahezu panisch, als der Vater vor dem Haus auftaucht, um den Kleinen einzufordern. Man weiß: Die Mutter hat Angst vor dem Vater. Der Vater hingegen wirkt durcheinander, gereizt, unter Druck stehend. Es gibt also eine Vorgeschichte, die uns noch nicht erzählt worden ist, und es ist wahrscheinlich keine schöne Vorgeschichte. Aber wir können sie erahnen. Sie wird uns aus den stummen Gesichtern, unwillkürlichen Körperbewegungen, der Mimik und den mal unbeherrschten, mal überkontrollierten Gesten der Beteiligten erzählt: ein verängstigter, entsetzter oder drohender Blick, ein Paar fest aufeinandergepresste Lippen, mittels extremer Körperbeherrschung unterdrückte Aggression, die richtungslos durch den Körper ramentert.
Rätselhafte Szenen: Bei der Abholung seines Sohnes gibt sich der Vater gegenüber diesem noch überaus bemüht, nett, fürsorglich, interessiert. Doch kaum sind die beiden am Wohnort des Vaters angekommen, lässt sich dieser nur noch von der Glotze berieseln und ignoriert sein Kind auch dann vollständig, als dieses ihn etwas fragt. Nein, ein Versuch, ein harmonisches Vater-Sohn-Verhältnis herzustellen, ist das nicht.
Nicht oft gelingt es einem Film, den Zuschauer eine das Geschehen dominierende Atmosphäre der Angst, der Beunruhigung, der Unsicherheit und Ungewissheit spüren zu lassen. Dieses beklemmende Psychodrama ist so ein Film.
Wir können der väterlichen Macht, der väterlichen Kontrolle und Druckausübung, der väterlichen Autorität beständig beim Wirken zusehen: Wir sehen den Bewegungen der väterlichen Physiognomie den angestrengten Versuch, sie zu bändigen, sie fortwährend unter Kontrolle zu halten, deutlich an. Wir hören, wie sich die fordernde Stimme des Vaters, mit einem milden, Entspanntheit vorspiegelnden Tonfall beginnend, mehr und mehr zu einem haltlosen Wüten und Brüllen steigert. Wir sehen, als der Vater hinter seinem Sohn hergeht, in Großaufnahmen die steuernde väterliche Hand am Hals und an der Schulter des Sohnes. Wir sehen dem Vater zu, wie er seinen Jungen für seine Zwecke benutzt, ihn einschüchtert, Aussagen erpresst, ihn bedroht, ihn anschreit. Wie ist es, wenn der eine Partner lieblos, narzisstisch, dominant, manipulativ, autoritär und egoistisch ist und der andere, eingeschüchtert und mit verhuschtem Blick, dem zu entkommen sucht?
Xavier Legrand hat mit seinem Debütfilm, der überwiegend in langen Einstellungen gedreht ist und weitgehend auf Musik verzichtet, einen gemächlich beginnenden und schließlich immer stärker eskalierenden Ehescheidungskrieg inszeniert, der diese Bezeichnung tatsächlich verdient. Das Ergebnis ist eine Art sozialrealistisches Horrordrama, wie es im braven, mutlosen deutschen Sentimentalitätskino derzeit undenkbar ist.
Dieser Text erschien zuerst am 22.08.2018 in: Neues Deutschland