Irgendetwas ist nicht in Ordnung. Das ist den Bildern des Psychohorrorfilmklassikers „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (1973) tief eingeschrieben. Da hat etwas Ungutes Einzug gehalten in sie, da wohnt etwas Dunkles in ihnen, das Unbehagen erzeugt.
Gewiss, das könnte man auf die Handlung schieben: In dem Film geht es um ein totes Kind, die trauernden Eltern und eine mysteriöse Person, die einen roten Mantel trägt. Und er spielt in einem braungrauen, schmutzigfeuchten Venedig, das genauso trostlos ausschaut wie die Eltern des ertrunkenen Kindes. Doch geht es in dem Film natürlich um weit mehr: um Schuld und Erinnerung, um Traum und Albtraum, um den Tod und den Sinn der menschlichen Existenz.
Nicht die zu erzählende Geschichte und deren Fortgang stehen hier im Mittelpunkt (wie immer in Nicolas Roegs Filmen), sondern die unorthodoxe Montage, die Visualisierung des Surrealen, Verborgenen und Unbewussten sowie die auf diese Weise erzeugte und nicht selten verstörende Atmosphäre, der eine gewisse Verwandtschaft mit der Logik des Traums eignet. Roeg kultivierte den Blick des Fotografen oder Malers, für den die Bildkomposition wesentliches Element der Arbeit darstellt. Und er schuf eine eigene Film- und Bildersprache, die ihre assoziative Herangehensweise nicht verhehlte und die Gebote des linearen Erzählens ignorierte.
In seinem bekanntesten Film, dem oben genannten „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, wird so auch die bedrückende Atmosphäre der Trauer, der Angst, des Wahns und der Vergeblichkeit erzeugt. „Wenn das Kino noch die Avantgarde der visuellen Künste wäre, müsste man Denkmäler für Roeg errichten und Filmhochschulen nach ihm benennen“, schrieb Andreas Kilb erst vor kurzem in der FAZ aus Anlass des 90. Geburtstag des Filmregisseurs, der seine eindrucksvollsten und einflussreichsten Werke in den 1970er Jahren vorlegte.
Nicht nur um die Wünsche der Produktionsfirma (finanzieller Erfolg) und der Zuschauer (reibungslose Unterhaltung) hat Nicolas Roeg sich während seiner Laufbahn als Regisseur und Sonderling des Kinos wenig geschert, genauso wenig kümmerten ihn Dogmen wie die Chronologie des Filmgeschehens, das Happy End, die Gesetze des Spannungsaufbaus oder die Inszenierungsarten, wie sie das Hollywoodkino lehrte und wie sie im kommerziellen Mainstreamkino lange gültig waren und teils heute noch immer sind.
Nicolas Roeg, 1928 in London geboren, hat das Filmhandwerk von klein auf erlernt. In den 60er Jahren arbeitete er dann vor allem als Kameramann, für David Leans opulente Monumentalfilme („Lawrence von Arabien“, „Doktor Schiwago“) genauso wie etwa für Roger Cormans schrille B-Film-Fantasie „Satanas – Das Schloss der blutigen Bestie“.
1970 führte er zum ersten mal Regie, bei dem Pop-Art-Gangsterfilm „Performance“, in dem Mick Jagger die Hauptrolle spielte. 1971 folgte sein Filmdrama „Walkabout“, in dem wir ein paar Kinder bei ihrer Wanderung durch die australische Wüste begleiten – und mit dem Roeg begann, seine eigene Ästhetik zu entwickeln. „Walkabout“ avancierte prompt zu einem Lieblingsfilm der Kritiker. 1976 kam seine melancholische Science-Fiction-Elegie „Der Mann, der vom Himmel fiel“ heraus, in der David Bowie die Titelrolle spielte, einen verzweifelten, desorientierten Außerirdischen, der sich, im Bemühen, seinen austrocknenden Herkunftsplaneten zu retten, mit der ebenso ignoranten wie dummen menschlichen Zivilisation herumschlagen muss. Die Produktionsfirma Paramount wollte seinerzeit das von ihr in den kapitalismuskritischen Film, „den kein Mensch verstand“ (Thomas Klingenmaier), investierte Geld zurückhaben. Heute gilt der Film als eine der visionärsten Regiearbeiten der 70er Jahre. Am Freitagabend ist Nicolas Roeg verstorben.
Dieser Text erschien zuerst am 26.11.2018 in: Neues Deutschland