DDR, 1956, drei Jahre nach jenem 17. Juni, der den Sattel der Machtverhältnisse im SED-Staat noch einmal für alle sichtbar gerade rückte: Theo (Leonard Scheicher) und Kurt (Tom Gramenz) gurken mit dem Zug von Stalinstadt nach West-Berlin. Im Kino soll es nackte Haut zu sehen geben. Doch was hängen bleibt, sind nicht die Brüste der Liane aus dem tiefen Dschungel, sondern die Wochenschau-Bilder über den Volksaufstand in Ungarn. Zurück im Arbeiter- und Bauernstaat regt sich – angeführt von den beiden Jungspunden – in der Schulklasse der jugendliche Widerstand gegen den Staatsapparat. Denn die Medien der DDR berichten gänzlich anders über die Ereignisse in Budapest. Ob Volksbewegung oder Konterrevolution wird schnell zur Ansichtssache. An dieser reiben sich die Jugendlichen mit zwei Schweigeminuten im Geschichtsunterricht, bis der Staat die Muskeln spielen lässt und mit Abiturverbot droht, sollte die Klasse die Rädelsführer nicht preisgeben. Spannende Geschichte? Pustekuchen! Ist nämlich wieder nur ein Museumsfilm geworden, der sich an seiner Ausstattung und seinen ach-so-originalgetreuen Kostümen aufgeilt.
Der angedeuteten Komplexität der jungen Protagonisten, die an ihrem selbstgeschaffenen Dilemma ordentlich zu Knabbern haben, steht in „Das schweigende Klassenzimmer“ von Lars Kraume die Eindimensionalität und Beispielhaftigkeit der älteren unvereinbar gegenüber. Dass dies auf die Engstirnigkeit der Elterngeneration, die sich hier gegen den Freiheitsdrang der Jugend positioniert, anhebt und somit eine Geschichte von Insassen und Wärtern erzählt werden soll, ist das Eine. Dass sich daraus die Klischees des deutschen Pädagogenfilms im Dutzend ableiten etwas Anderes. Und so darf Michael Gwisdek – man sieht ihn und ahnt es – irgendwelchen Mist über Individualismus, Freiheit und Unfreiheit vom Stapel lassen. Zu allem Überfluss ist seine Figur des ehemaligen NS-Widerständlers Edgar, der abgeschieden in den Ruinen eines Bauernhofes lebt, auch noch homosexuell. Da lohnt sich die Verfolgung durch die Apparatschiks erst so richtig. Ronald Zehrfeld – der immer auf der richtigen Seite stehende Teddybär des deutschen Quatschmitgeschichtefilms – entpuppt sich als das einzige Elternteil mit reinem Herzelein. Und Burkhardt Klaußner stapelt Hass bis direkt unter die Klassenzimmerdecke, bis aus all dem Gebrüll ein Mahnmal gegen den Unrechtsstaat in seiner Gänze wird.
Zu allem Überfluss tackert Drehbuchautor und Regisseur Lars Kraume den historischen Tatsachen eine Liebesgeschichte zwischen Theo, Lena (Anna Lena Klemke) und Kurt ans Knie, in der sich die zu vergebenden Sympathien der Angebeteten immer auch an der Strahlkraft der Konterrevolutionäre ausrichten. Man kann ja niemanden küssen, der nicht hinter der Sache steht. Klaro. Und wie bescheuert diese drei Revoluzzer dann ausschauen, wenn sie im Mondschein am See stehen, sich Mut machen für ihren Widerstandskampf und schließlich ihren Drang nach Freiheit stürmisch in die Dunkelheit hinein schreien. Erst zaghaft, dann heulend wie ein Wolf und schließlich übertrieben laut bis die Stimmbänder diesen Selbstvergewisserungsquatsch krachend quittieren.
Was „Das schweigende Klassenzimmer“ auszeichnet, sind die wiederkehrenden Erzählstandards des deutschen Mainstreamkinos, das sich in seiner Versessenheit auf akkurate Ausstattung gefällt, sich im immerwährenden, kommentierenden Musikeinsatz Mut zuschreit und in der Farbkorrektur die Kontrolle verliert. Im Ablenkungsmanöver des Mustergültigen, Aufgeräumten und Entsättigten geht ein Gespür für Details verloren. Die Nebensächlichkeiten und Unordentlichkeiten, aus denen das Leben zumeist besteht, spielen keine Rolle mehr. Für diese ist der Film blind wie sein Regisseur: Er komme nicht aus der DDR, aber die Recherchen seien nicht allzu schwer gewesen, erklärt Lars Kraume in einem Interview lässig in den Regiestuhl gefletzt, die Arbeit an seinem Film. Dieses unbegreifliche Desinteresse an deutscher Geschichte kann das sauber eingerichtete und mit Bohnerwachs und Scheuerhader glattpolierte IKEA-Showroom-Setdesign, kaum verbergen. Im Gegenteil lässt es genau deshalb jedes Gefühl für das Leben in der Epoche vermissen. Wenn die Hauptsache der hübsch über die Schulter geworfene Schal ist und den eigentlichen Themen – wie also Solidarität, Freiheit, Widerstand und Mut in einer Gemeinschaft verstanden werden – keine Anbindung an aktuelle Fragen gesellschaftspolitischer Entwicklungen mehr gelingt, verkommen sie in den bedeutungsschweren Dialogen auf diese Weise zur dusseligen, hohlen Parole, die Fremdscham hervorruft.
Und so weht die Windmaschine kräftig Laub durch die im Laufe des Filmes immer düsterer werdenden Straßen Stalinstadts – das bald Eisenhüttenstadt heißen wird und nicht das Storkow ist, in dem sich die Geschichte eigentlich zugetragen hat – und den Geist aus dem Film. Am Ende dann ein Sonnenstrahl, der den Zug zart erhellt, ein Krawattenknoten, der gelockert werden kann, weil man raus gekommen ist. Und leise regt sich Widerstand gegen Filme dieser Bauart und die Gewissheit keimt: Wer nichts zu erzählen hat, sollte besser schweigen.