Sergeant Fletcher steht mit der Bardame im Saloon, während hinter ihnen eine bestrahlte Freiluftkino-Leinwand durch Tür und Fenster zu sehen ist. Es läuft der heute nur noch fragmentarisch erhaltene „The Story of the Kelly Gang“ (AUS 1906; Regie: Charles Tait), der nicht nur mit über 1200 Metern Länge als erster Langspielfilm der Kinogeschichte in ebendiese eingegangen ist, sondern seinerzeit immer wieder Kontroversen auslöste: Glorifiziert ein epischer Spielfilm über die Abenteuer eines berüchtigten Outlaws nicht die Kriminalität?
Seit „The Great Train Robbery“ (USA 1903; Regie: Edwin S. Porter) in George P. Cosmatos‘ „Tombstone“ (USA 1993) zu sehen war, hat kein Western mehr einem frühen Stummfilm-Western soviel Raum gestattet. Und es ist kein Zufall, dass gerade dieser – fast schon wie eine avantgardistische Rückprojektion eingesetzte – Film zu sehen ist und von den Städtern lautstark gefeiert, vom Sergeant jedoch verschmäht und zu einem vorzeitigen Ende gebracht wird. Denn „Sweet Country“, der australische Western, der aus den vielen Erzählungen der Vorfahren der Filmemacher eine exemplarische Geschichte des Rassismus kondensiert, handelt auch vom Auseinanderklaffen von Rechtsprechung und Rechtsempfinden.
Der Aborigine Sam Kelly erschießt in Notwehr einen weißen Mann: Harry Marsh hatte sich Sam als Arbeitskraft vom gutmütigen Prediger Fred Smith entliehen, Sam samt Frau und Nichte für sich arbeiten lassen, die Frau vergewaltigt und schließlich alle davongejagt. Später wird er den Sohn seines Kumpanen Mick Kennedy für sich arbeiten lassen, den dieser mit einer Aborigine-Frau gezeugt hatte. Statt väterlicher Fürsorge, die nur selten durchblitzt, überwiegen Beschämung und Verachtung, was sich auch in körperlicher Züchtigung niederschlägt. Harry Marsh, nach seinem Kriegsdienst und durch regelmäßigen Alkoholgenuss unberechenbar geworden, misshandelt den Jungen seinerseits, was diesen zur Flucht auf das Gut des Predigers treibt. Doch Smith ist abwesend, bloß Sam Kelly samt Gattin sind zugegen. Und über sie bricht Harry Marshs Wut herein, die Sam letztlich in Notwehr mit Waffengewalt beenden muss. Als Aborigine, der einen Weißen umgebracht hat, muss Sam mit seiner Frau, in welcher längst das Kind des Peinigers heranwächst und die Flucht erschwert, ins Outback fliehen. An ihre Fersen heften sich neben Fred Smith, der Sam lebend wiedersehen möchte, Mick Kennedy sowie der fanatische Sergeant Fletcher samt Gehilfe.
Sehr geruhsam wird diese abenteuerliche Flucht geschildert. In langen Aufnahmen widmet sich die Kamera der Weite des Raums, während die Montage (unter indirekter Berufung auf die Traumzeit) die Chronologie untergräbt und Szenen aus der Vergangenheit – und vor allem aus der Zukunft – in das Geschehen integriert. Vermessen wirken vor diesem Hintergrund Fanatismus und Überheblichkeit der weißen Männer, die sich zum Maß aller Dinge machen und alles Fremde abwerten. Im Gegensatz zu ihnen scheint sich Sam Kelly der Umgebung anpassen zu können. Als Sergeant Fletcher sich – längst auf sich allein gestellt – in den Weiten einer Salzwüste verirrt und zu verdursten droht, tritt der gesuchte Sam Kelly gesund und kräftig wie eh und je an ihn heran, versorgt ihn mit Trinkwasser und zieht mit den Waffen des Verfolgers wieder davon. Erst die voranschreitende Schwangerschaft seiner Frau nötigt ihn zur Rückkehr. Auch im Vertrauen auf den gütigen Gott seines gütigen Arbeitgebers Fred Smith stellt er sich einem Prozess.
Doch der hinzukommende Richter, der erst einmal einen improvisierten Gerichtssaal im Freien der kleinen Stadt errichten lassen muss (wobei die Leinwand, auf welcher einst der Outlaw-Film lief, nun als Decke herhält), ist so wenig angesehen wie die Aborigines. Man solle den Angeklagten und den Richter gleich mit diesem aufhängen, so raunt es aus der Menge der Schaulustigen, während der Galgen bereits aufgebaut wird. Wie die meisten Anti-Rassismus-Dramen im historischen Setting verweigern auch Warwick Thornton und seine Autoren dem Publikum ein Happy End. Hier jedoch wird der Angeklagte freigesprochen, was auch Sergeant Fletcher akzeptiert. Erst Selbstjustiz erfüllt im Anschluss und einige Meilen entfernt den Willen der Bevölkerung.
Sam Kelly ist nicht von ungefähr ein Namensvetter von Ned Kelly aus dem bereits erwähnten Stummfilmklassiker „The Story of the Kelly Gang“: Sie beide sind von ihrer Umgebung drangsaliert worden, Sam als Aborigine unter Weißen, Ned als Nachfahre von Iren, die man in die australische Sträflingskolonie deportiert hatte. Doch während der weiße Outlaw trotz der Nachstellung, Verurteilung und Hinrichtung durch das Gesetz zumindest bei Teilen der Bevölkerung zum Volkshelden avancierte, stellt sich der Aborigine Sam Kelly friedlich und rechtschaffen, wird freigesprochen, aber vom Volkszorn überrollt. Er, die fiktive Konzentration ganz realer, anonymer Vorbilder, erntet aber auf der Kinoleinwand jene Bewunderung, die auch Ned Kelly bei der Filmaufführung innerhalb des Films zuteil wird. Insofern ist diese Aufarbeitung australischer Geschichte ebenso bedeutsam wie gelungen.