Wie aus der Zeit gefallen, wirkt das entlegene Landgut irgendwo in Italien. Sein Name „Inviolata“ ist gewissermaßen kennzeichnend: Nahezu unberührt von der Moderne, symbolisch abzulesen auch an der eingestürzten Brücke, die zum Gehöft führt, leben die Menschen unter archaischen Arbeitsbedingungen fast wie Leibeigene der Marchesa Alfonsina de Luna (Nicoletta Braschi). Die „Königin der Zigaretten“, von den Bauern insgeheim als „giftige Schlange“ verspottet, verdient ihr Geld mit dem Anbau von Tabak. Wenn der strenge Verwalter allerdings mal wieder seine obskure Abrechnung macht bleiben den Halbpächtern trotz harter Arbeit nichts als Schulden und Armut. Über ihre vergeblichen Mühen sagen sie, sie seien „nichts als Wind in den Händen“. Ihre fatalistische Sicht der Dinge trifft sich mit den Anschauungen der Marchesa, für die Ungleichheit und Ausbeutung ein Naturgesetz sind: „Menschliche Wesen sind wie Tiere. Jeder nutzt jeden aus.“
Nur einer der Arbeiter scheint dieser egoistischen Logik nicht zu folgen: Der fleißige, schweigsame Lazzaro (Adriano Tardiolo), der nur allmählich aus dem dunklen Hintergrund tritt, führt seine Aufgaben und Aufträge geduldig, stets hilfsbereit und völlig uneigennützig aus. Dabei zeigt er weder Unmut noch Müdigkeit. Obwohl er stark beansprucht, ja ausgenutzt wird, ist sein freundliches Gesicht mit den großen wunderlichen Augen immer von einem leisen, inneren Lächeln erfüllt. Lazzaro ist der gute Mensch mit reinem Antlitz. Sein Name ist in aller Munde. Durch die hohen Tabakstauden geht ein Flüstern und Rufen. Auf geheimnisvolle und zugleich einfache Weise ruht Lazzaro in sich selbst. In einer Felsennische beim Schaftstall hat er sein Refugium, das irgendwann für Tancredi (Luca Chikovani), den jungen, rebellischen Sohn der Marchesa, zum Versteck wird. Trotz zunehmender Konflikte und Gewissensnöte hilft Lazzaro auch ihm. Bis der Selbstlose eines Nachts fiebernd und wie verzaubert im strömenden Regen steht.
In ihrem preisgekrönten Film „Glücklich wie Lazzaro“ (Lazzaro felice), der beständig und sehr poetisch zwischen realer und magischer Welt changiert, wird aus dem „fleißigen Arbeiter“ ein Heiliger mit übersinnlichen Kräften. Angelehnt an die Lazarus-Legende führt sein Weg vom Tod ins Erwachen und vom Land der alten Zeit in die hässlichen Randbezirke einer modernen Großstadt, wo Lazzaro Jahre später die alten Gefährten wiederfindet und wo sich die Unterdrückung der Schwachen unter anderen Vorzeichen fortsetzt. Diese Kontinuität angesichts gesellschaftlicher Veränderungen ist für Alice Rohrwachers ebenso sinnliche wie spirituelle Zeitreise von zentraler Bedeutung. Ihr gutherziger Protagonist wird zu einem Heiland, der nichts für sich beansprucht und der weder Wunder vollbringt noch die Welt verändern kann. Und doch umgibt ihn in seiner stillen Größe und beharrlichen Hilfsbereitschaft eine magische Aura, die geheimnisvoll bezaubert und zum Glauben an das Gute verführt.