Ein Ermordeter mit herausquellendem Gedärm liegt auf der Straße eines berüchtigten Arbeiterviertels in Santiago de Chile. Selbst vor seinen Kleidern machen die Leichenfledderer nicht Halt. Wüst, gemein und bedrohlich ist die Umgebung, in der der junge Alejandro Jodorowsky (Jeremias Herskovits) in den 1940er Jahren zum Mann und Künstler heranreift. Während der sensible Außenseiter Gedichte von Federico García Lorca liest und sich mit ersten Schreibversuchen ein Poetendasein erträumt, hat sein herrischer Vater Jaime (Brontis Jodorowsky) ein Medizinstudium für ihn vorgesehen. Im Übrigen will der geldgierige Ladeninhaber aus seinem Sohn einen richtigen, also furchtlosen Mann machen, weshalb er ihn zwingt, Ladendiebe zu entlarven und brutal zusammenzuschlagen. Die Konfrontation mit der nackten Wirklichkeit und die Flucht in die Phantasie liegen bei diesem archetypischen Vater-Sohn-Konflikt also miteinander im Clinch.
Für den legendären chilenischen (Comic-)Autor und Filmemacher Alejandro Jodorowsky (Jahrgang 1929), bekannt für seine singulären Kultfilme „El Topo“ (1970) und „Montana Sacra“ (1973), ist diese Opposition, vor allem aber ihre Auflösung im surrealen Fluss der Bilder – aufgenommen von Wong Kar-wai-Kameramann Christopher Doyle – programmatisch. Sein opernhaftes, stilistisch überbordendes, ebenso drastisches wie pathetisches Kino feiert den Exzess und die Übertreibung, die Opulenz und den Kitsch. Verspielt und maßlos setzt der betagte Filmmagier dabei die üblichen Koordinaten von Raum und Zeit außer Kraft. Neben dem Theatralischen ist es vor allem Jodorowskys Vorliebe für schräge, monströse Figuren, grelle Effekte und eine ausgestellte Künstlichkeit, die an die Werke Federico Fellinis erinnert. Wie dieser hegt auch Jodorowsky eine Bewunderung für das Clowneske und den Zirkus, für Pantomime und Marionetten. In seinem neuen Film „Endless Poetry“, dem nach „The Dance of Reality“ zweiten Teil seiner filmischen Autobiographie, huldigt er gegen den Tod einmal mehr dieser Welt der wahren Lebendigkeit.
Und er tut dies mit den Mitteln der Rebellion. Um sich von seinem dominanten Vater und seiner jüdischen Familie zu befreien und seiner künstlerischen Berufung zu folgen, muss Alejandro ganz symbolisch mit einer Axt den Familienbaum fällen. „Eine nackte Jungfrau wird deinen Weg erhellen mit einem leuchtenden Schmetterling“, wird ihm prophezeit, bevor sich diese poetische Weissagung in der Begegnung mit der Dichterin Stella Díaz (Pamela Flores, die auch die singende Mutter des Helden verkörpert), einer Inkarnation urgewaltiger Weiblichkeit, erfüllt. Alejandro ist jetzt ein junger Mann (Adan Jodorowsky), der in der verrückten Künstlerkommune der Cereceda-Schwestern Zuflucht findet, bald die Dichter Nicanor Parra und Enríque Lihn (Leandro Traub) kennenlernt und mit diesem zusammen durch subversive Aktionen und surreale Akte auf sich aufmerksam macht.
Seine künstlerische Berufung muss sich dabei immer wieder gegen äußere Widerstände und innere Zweifel behaupten. Im Gespräch mit sich selbst als alter Mann (gespielt von Alejandro Jodorowsky) findet er Rat: „Das Leben hat keine Bedeutung, du musst es leben“, sagt dieser. Als weißer Engel mit Flügeln schwebt der zum Künstler Berufene schließlich während der Karnevalsprozession über den Köpfen rot gewandeter Teufel und tanzender Totenskelette. Doch erst der endgültige Bruch mit dem Vater und die Flucht aus seiner (auch politisch) morbiden Heimat ins Exil nach Frankreich führen Alejandro zu seinem künstlerischen Selbst.