In der Weite einer nordischen Winterlandschaft geht ein Vater mit seiner kleinen Tochter übers Eis. Unter der gefrorenen, spiegelglatten Oberfläche des Sees tummeln sich Fische wie in einem Aquarium. Wenn sie sachte gegen die Eisdecke stoßen, wirken sie wie hilflose Gefangene. Kurz darauf, im Wald, beobachten die beiden schweigsamen Wanderer ein Reh, auf das der Vater mit seinem Gewehr anlegt. Doch dann ändert der Jäger überraschenderweise seine Absicht und richtet die Waffe heimlich auf das Mädchen. Joachim Triers Film „Thelma“ beginnt mit einer Irritation und einer Verstörung, die lange nachwirkt und Fragen aufwirft, die ins Herz einer komplizierten Coming-of-Age-Geschichte und in die geheimnisvollen Abgründe einer psychotischen Vater-Tochter-Beziehung führen. Im Spannungsfeld zwischen mythischer Natur und moderner Stadt, Kindheitserinnerungen und Gegenwart, Religion und Wissenschaft, Trauma und Wahnsinn entfaltet der norwegische Regisseur einen visuell vielschichtigen Mysterythriller, der das Genre mit existentiellen Themen verbindet.
Als Biologie-Studentin auf dem Universitätscampus in Oslo wirkt die junge Titelheldin zunächst verloren und isoliert. Thelma (Eili Harboe) lebt in einem anonymen Wohnheim, ist schüchtern und sucht zaghaft Anschluss. Als sie im Lesesaal der Uni-Bibliothek plötzlich eine Art epileptischen Anfall erleidet, entwickelt sich in der Folge ein Kontakt zu ihrer schönen Kommilitonin Anja (Kaya Wilkins). Die beiden verlieben sich ineinander, doch Thelma leidet unter Schuldgefühlen und sucht entgegen ihren wahren Empfindungen immer wieder die Distanz; worauf der verleugnete Körper mit zunehmend heftigeren Anfällen reagiert, deren Ursachen – so ergeben diverse medizinische Untersuchungen – offensichtlich psychogener Natur sind. Etwas Unterdrücktes bricht aus, verdrängte Wünsche scheinen sich regelrecht zu materialisieren. Bald wird deutlich, dass Thelma Konflikte austrägt, die von der strengen christlichen Erziehung ihrer Eltern herrühren.
Joachim Trier inszeniert Thelmas Anfälle als intensiven Ausdruck übernatürlicher, letztlich zerstörerischer und damit befreiender Kräfte. Im telepathischen Raum umgelenkter Energien prallen Vögel gegen Fenster, werden Stromkreise unterbrochen und die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft gesetzt. Alpträume und Phantasien werden real und verbinden sich zugleich mit einem symbolischen Subtext. Hypnotisierende Bilder eines verbotenen Begehrens und einer internalisierten Gefangenschaft stehen in dessen Zentrum. Um sich aus den Fesseln ihrer Erziehung zu lösen und sich von der väterlichen Kontrolle zu befreien, muss Thelma schließlich erst zurückkehren an den Ort ihrer Kindheit und damit in die Geschichte einer fortgesetzten Unterdrückung und psychischen Manipulation.
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Thelma“.