In Zeiten, in denen ein amtierender US-Präsident das Twitter-Format als einzig angemessenen Kommunikationskanal seiner Regentschaft erachtet, sind auch entsprechende Verkürzungen in der Wahrnehmung von Filmen en vogue, und so bekam „Thelma“ nach seiner internationalen Premiere beim Filmfestival in Toronto schnell das einprägsame Label „it’s like Stephen King’s ‚Carrie‘ directed by Ingmar Bergman“ verpasst.
Eine auf den ersten Blick nachvollziehbare Etikettierung, bringen sich doch schnell – ungeachtet der Langsamkeit der Inszenierung – alle entsprechenden Ingredienzien in Stellung: die Coming-of-Age-Entwicklung eines schüchternen Mädchens mit besonderen Fähigkeiten, der religiös geprägte Background und das sexuelle Aufbegehren, gepaart mit einer typisch skandinavisch anmutenden Introspektion und Melancholie, die sich einer sanften Schneedecke gleich über die Erzählung legt. Selbst Elemente eines allseits geschätzten, grimmigen „Nordic Noir“ fließen in die dunkle Pracht der Bilder ein, angefangen bei einer kurzen Exposition aus der kindlichen Vergangenheit der Protagonistin, die sogleich ein beklemmendes Ausrufezeichen setzt. Mit dem Mädchen stimmt etwas so ganz und gar nicht. Doch ihr Vater verdient unsere Aufmerksamkeit gleichermaßen.
Es ist diese eigentümliche Familiendynamik, die den Film auch durch die ersten Tage an der Universität im fernen Oslo trägt. Die täglichen Kontrollanrufe, die Thelma ebenso pflichtschuldig wie teilnahmslos absolviert, der zwischen Konservatismus und strenger Religiosität oszillierende Anspruch der Eltern und Thelmas vorsichtiges Ausbrechen in ein selbstbestimmtes Leben. Die Begegnung mit ihrer Kommilitonin Anja schließlich bringt die fragile Balance ins Wanken, mehr noch, sie erschüttert die Grundfesten von Thelmas unterdrückter Existenz. Es erscheint zunächst wie ein altbekannter Topos unzähliger Horrorfilme, der jugendlicher Zwanglosigkeit und sexueller Abenteuerlust eine unvermeidliche Strafe folgen lässt. Aber die scheinbar epileptischen Anfälle Thelmas, die mit unerklärlichen Phänomenen einhergehen, gründen tiefer.
Auch wenn Regisseur Joachim Trier die paranormalen Ereignisse genüsslich ausspielt – und manchmal allzu sehr auf lose verwandte skandinavische Filme wie „Let The Right One In“ oder „When Animals Dream“ rekurriert – bleibt sein Hauptinteresse stets bei seiner enigmatischen Hauptfigur und ihrer allmählich freigelegten Familienaufstellung. Und damit verweist er trotz des Genrewechsels auf das Themenspektrum seines vorherigen Films, der furios fragmentarisch erzählten Familientragödie „Louder Than Bombs“.
Mit Norwegens diesjährigem Shooting Star Eili Harboe verfügt Trier dabei über eine Darstellerin, die mit beeindruckender Souveränität sowohl dem unscheinbaren Mädchen von nebenan wie auch ihren Abgründen erstaunliche Präsenz verleiht. Nicht minder bemerkenswert auch ihr Filmvater Henrik Rafaelsen, der seine naturgemäß weit weniger ausformulierte Nebenrolle sehr nuanciert interpretiert, zumal er leicht in religiös-fanatische Klischees hätte verfallen können. Sobald „Thelma“ seinem Höhepunkt entgegensteuert und die Backstory des unheilvollen Familiengeheimnisses zumindest so weit erhellt, dass alle Andeutungen und Puzzleteile passgenau zusammenfallen, entfaltet sich eine inszenatorische Wucht, die weit über den althergebrachten Katalog aus Symbolismus und dekorativem Effektgewitter hinausweist. Die Verweise sowohl auf Stephen King als auch auf Ingmar Bergman greifen letztlich zu kurz und übergehen die Eigensinnigkeit von „Thelma“/Thelma und seines Regisseurs, der hiermit ein großes und beziehungsreiches Kinowerk vorlegt, das lange nachhallt.
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Thelma“.