Lange schwarze Haarsträhnen, die ein Gesicht verdecken. Die Friseurschere geht ans Werk, schnipp-schnapp. Fertig ist der kecke neue Kurzhaarschnitt, der Chloe ein androgynes Äußeres verleiht.
Chloe, jung, weiblich, Ex-Model, trennt sich von ihren langen Haaren. Der Körper, er ist jederzeit modifizierbar, man kann sich von Überflüssigem trennen und Neues hinzufügen. Ach, wär’s doch nur mit der Psyche genauso einfach!
Wie wir soeben in das Gesicht der jungen Frau gesehen haben, so sehen wir jetzt in ihre geöffnete Vagina: Rosa erstrahlt der Gebärmutterhals, wir blicken in ein sich im Körper verzweigendes System aus Röhren und amorphen Organen. Der Körper, er hat nicht nur ein Außen, er hat auch ein Innen, ein unsichtbares, beunruhigendes, verborgenes, so lernen wir.
Kurz darauf sehen wir Chloe eine Wendeltreppe hinaufgehen, die zur Praxis eines Psychotheraputen führt. Alles klar: Wendeltreppe, Traum / Alptraum, Hitchcock, Vertigo, Persönlichkeitsstörung, Persönlichkeitsspaltung. „Ist eine Treppe sehr verwinkelt, steil oder anderweitig umständlich, so deutet dies auf schwer zugängliche Bereiche Ihrer Persönlichkeit – oft symbolisiert durch Keller oder Dachboden“, so kann man nach einer superschnellen Google-Blitzrecherche auf www.traum-deutung.de erfahren. Aha!
Wir kennen nun – nach dem Thema Körper / Psyche / Identität – das zweite Thema des Films: Realität / Traum. Jetzt kann es also losgehen mit der Geschichte: Chloe ist unwohl in ihrem Körper, so erzählt sie dem sympathisch lächelnden, blonden und einen schicken Pulli in dezenten Brauntönen tragenden Psychotherapeuten, Paul Meyer. Sie habe Bauchweh, und das obwohl sie sich doch glutenfrei ernähre, so erzählt sie ihm. Von ihrer Mutter fühle sie sich ungeliebt, sie sei nun mal kein Wunschkind gewesen, sondern Frucht einer ungewollten Schwangerschaft. Manchmal fühle sie sich leer und weine „ohne Grund“. Wir hören die Stichworte in unserem Zuschauerkopf: Körper / Liebe / Trauer / Leere / Geheimnis.
Paul schweigt und lächelt. So ist das manchmal. Paul entwickelt Gefühle für Chloe, obwohl er das nicht darf, weil er ja eigentlich ihr Arzt ist. Nun ja, was soll’s. Was folgt, ist ein zärtlicher Kuss zwischen beiden. Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Schwupps! Schon sehen wir Chloe und Paul beim Einzug in die gemeinsame Wohnung zu. So schnell kann’s im Film manchmal zugehen.
Doch rasch kommt es zwischen den beiden Frischverliebten zu allerlei Unaufrichtigkeiten, ein nagendes Misstrauen setzt ein: Warum verheimlicht und leugnet Paul die Existenz seines Zwillingsbruders Louis, der obendrein skurrilerweise einen anderen Nachnamen hat? Und warum ist dieser mysteriöse Zwillingsbruder denn auch Psychotherapeut? Ausgerechnet in derselben Stadt? Und was von all dem ist eigentlich Traum und was Realität, sofern diese sich nicht längst aufgelöst hat? Und warum fängt Chloe ein fatales Verhältnis mit Louis, dem rätselhaften Zwillingsbruder, an, der ganz anders ist als der sanftmütig-langweilige Paul, nämlich unverschämt, grob und gewalttätig, ein irgendwie animalisch-superviriler Kotzbrocken? Und was ist eigentlich mit dieser sonderbaren kuchenbackenden Nachbarin los, die ihre verstorbene Katze hat ausstopfen lassen?
Und immer dieses Bauchweh, das wieder zurückgekommen ist! Wir merken uns auch hier wieder die Stichworte: Symbiose / Trennung / Identität / Differenz / Geheimnis / Psyche / Körper / Traum / Realität / Sex / Gewalt / Bauch / Kuchen. Puh! Mittlerweile sind es ganz schön viele Begriffe zum Merken! Und das Wort „Kuchen“ brauchen Sie sich natürlich nicht zu merken, das war nur Quatsch, haha.
Chloe hat aber immerhin beruflich Glück gehabt und nach längerer Suche einen neuen Job gefunden: als Museumswärterin. Mehrere blutige Installationen und klopsartige Objekte werden dort ausgestellt, in diesem aseptisch wirkenden Museum, in dem alles berückend sauber und strahlend weiß ausschaut. „Flesh & Blood“ heißt die dort gegenwärtig gezeigte Ausstellung von Gegenwartskunst, wie könnte es auch anders sein. Da rumort es im Zuschauerkopf wieder: Fleisch / Blut / Körper / Gewalt. Alles klar.
Chloe stakst in diesem Film bevorzugt durch klinisch saubere Räume, die großzügig angelegt und mit edlen Designermöbeln ausgestattet sind. Umso unaufgeräumter jedoch scheint es in ihr selbst zuzugehen.
Der französische Regisseur François Ozon bedient sich hier fleißig sowohl aus der Geschichte der Phantastik als auch der Psychologie. Es geht um das Sicht- und das Unsichtbare, die nackte Oberfläche und das Verdrängte, Bild und Spiegelbild. Das in phantastischer Literatur und Genrekino sattsam bekannte Doppelgängermotiv kennt man etwa aus der Prosa Edgar Allan Poes und E.T.A. Hoffmanns ebenso wie aus den Filmen von David Lynch, Brian De Palma und Alfred Hitchcock.
Was wiederum den Körperhorror angeht, scheint Ozon sich auf nicht gerade sparsame Weise beim kanadischen Horror-Regisseur David Cronenberg bedient zu haben, dem filmischen Spezialisten für Körperinneres ebenso wie für psychisch Verdrängtes, der als eine Art Experte gelten kann, wenn es um die Invasion des menschlichen Körpers durch Fremdartiges / Unbekanntes geht oder darum, Fremdartiges / Unbekanntes in farbenfroher Weise aus diesem zu entfernen. Aus Cronenbergs Film „Die Unzertrennlichen“ („Dead Ringers“, 1988), in dem es auch um ungleiche Zwillinge geht, die beide als Ärzte tätig sind, scheint hier einiges zusammengeklaut. Aber das macht nichts. Was heißt schon geklaut. „Aneignen“ nennt es der Künstler.
Dieser Text erschien zuerst in: Neues Deutschland