Menschen und Gesichter, alt und voller Erfahrung: Stumm blicken sie uns an mit ihrem vom Leben gezeichneten Wissen, als wollten sie von uns, den Nachgeborenen, eine Antwort erhalten auf eine nichtgestellte, aber schwelende Frage. Sie alle sind Juden und wurden Mitte der 1920er Jahre in Breslau geboren, als die Stadt noch deutsch war. Sie heißen Stern und Adler, Lewy und Lasker, Rosenberg und Rotenberg und gehören zu einer Generation, die durch Verfolgung, Krieg und Holocaust vertrieben wurde. Jetzt sind sie Zeugen einer nicht vergehenden Geschichte und blicken mit ihren Erinnerungen für uns zurück. Sie sind aber auch Vergessene im traurigen Niemandsland zwischen polnischem Gedenken und deutscher „Vergangenheitsbewältigung“. Mit ihrem Film „Wir sind Juden aus Breslau“ setzen ihnen Karin Kaper und Dirk Szuszies jetzt ein Denkmal, das jenseits einer unmöglichen „Wiedergutmachung“ verloren Geglaubtes ins Bewusstsein rückt, die Erinnerung wach hält und für Gefährdungen sensibilisiert.
Vor dem Krieg, so heißt es, war Breslau sechshundert Jahre lang eine deutsche Stadt, in der Mitte der 1930er Jahre etwa 20.000 Juden lebten und eine der größten jüdischen Gemeinden des Landes bildeten. Eine deutsch-polnische Schülergruppe, angeführt und begleitet von Zeitzeugen, besucht die damaligen Schauplätze, Orte der Geschichte, im heutigen, modernen Wrocław: Die Judengasse, die heute Universitätsstraße heißt, den alten jüdischen Friedhof, eine renovierte Synagoge, aber auch den berüchtigten „Umschlagplatz“, von wo aus die Juden deportiert wurden. Bevor die Novemberpogrome von 1938 alles änderten, war das jüdische Leben in Breslau, so erfahren wir, liberal und vielgestaltig, vor allem aber eng verflochten mit der deutschen Kultur und Geschichte.
Noch einmal sehen wir im Wechsel die Gesichter der insgesamt vierzehn Zeitzeugen. Doch dieses Mal sind sie nicht stumm, sondern erzählen aus dem Off ihre unterschiedlichen Geschichten vom Überleben, von Flucht und Exil, von Tod und den Traumata, die auf ihren zerstörten Familien lasten. Die zeitweise Trennung von Wort und Bild in der Montage wirkt dabei wie eine Entlastung für die Opfer. Desweiteren illustrieren und ergänzen Karin Kaper und Dirk Szuszies diese Erzählungen mit historischem Bildmaterial, das sowohl die Schrecken des Krieges als auch die gleichermaßen von Hoffnung und Angst gekennzeichneten Aufbrüche in ein neues, noch ungewisses Leben in den USA, in Palästina und in Frankreich dokumentieren. „Schwimmen oder Untergehen“, habe die Devise dieser bemerkenswert starken Persönlichkeiten gelautet, die es trotz allem in ein gutes Leben geschafft haben.
Auch wenn gegenwärtig in Wrocław eine neue jüdische Gemeinde entsteht, zeigt doch zugleich ein erstarkender (polnischer) Nationalismus, dass „gegenseitige Achtung“ längst nicht selbstverständlich ist. Und das weiterhin jenes Wort des italienischen Schriftstellers und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi gilt, das, entnommen seinem letzten Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“, in der Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas in Berlin zu lesen ist und das auch als Motto über diesem Film stehen könnte: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“