Der Blick der beiden Frauen geht ins Weite, geht übers Meer. Er ist sehnsuchtsvoll und fragend, bekümmert und ängstlich. Das helle Weite ist zugleich das Offene, auch Ungewisse, in dem Erfahrungen aus der Vergangenheit mit Hoffnungen zusammentreffen, die auf die Zukunft gerichtet sind. Das mal aufgewühlte, mal tosende, dann wieder ruhige Meer metaphorisiert dabei die Seelenzustände der Protagonistinnen. Yeşim Ustaoğlu parallelisiert in ihrem neuen Film „Clair Obscur“ (türkisch: „Tereddüt“, d. h. „Bedenken“, „Unentschlossenheit“) zunächst den kontrastierenden Alltag der beiden ungleichen Frauen, die verschiedene soziale Schichten und kulturelle Welten innerhalb der türkischen Gesellschaft repräsentieren; bis sich ihre Wege im Zeichen des Unglücks treffen und sich die Koordinaten von Hell und Dunkel entscheidend verschieben.
Die etwa 30-jährige Psychiaterin Şehnaz (Funda Eryiğit) arbeitet in einem Krankenhaus einer Küstenstadt und lebt in einer auf den ersten Blick glücklichen Fernbeziehung mit dem Architekten Cem (Mehmet Kurtuluş), der in Istanbul wohnt. Materieller Wohlstand, ein gebildeter Freundeskreis und fortschrittliche Werte kennzeichnen ihre moderne Beziehung. Doch hinter vorgeblicher Zufriedenheit und Toleranz, die vor allem von dem selbstverliebten, scheinbar perfekten Cem ausgestrahlt werden, verbergen sich Einsamkeit und sexuelle Frustration. Şhenaz fühlt sich ausgebeutet und unglücklich. Unsicher und schwankend ist letztlich der Untergrund ihrer nach außen scheinbar geordneten Lebensverhältnisse.
Auf ganz andere Weise freudlos ist der triste Alltag der jungen, völlig in sich gekehrten Elmas (Ecem Uzun). Als Minderjährige wurde die sensibel und zerbrechlich erscheinende Frau an einen älteren Mann zwangsverheiratet. Unter dem Diktat von traditionellen Werten und religiös geprägten Moralvorstellungen versieht Elmas wie eine Dienstmagd ihre Pflichten als Haus- und Ehefrau: Sie versorgt ihre strenge, an Diabetes leidende Schwiegermutter und ist unter Schmerzen ihrem Mann sexuell gefügig. Der Ladenbesitzer gibt sich zwar verständnisvoll gegenüber seiner Frau, behauptet zugleich aber seine männliche Dominanz und Autorität. So ist Elmas hilflose Abhängigkeit nahezu total. Als sie nach einer stürmischen Nacht eines Morgens unterkühlt und völlig verstört auf dem Balkon gefunden wird, sind ihr Ehemann und die Schwiegermutter tot.
Die renommierte türkische Filmemacherin Yeşim Ustaoğlu erzählt diese parallelen, in kontrastierenden Lebenswelten spielenden Frauendramen zunächst verhalten und in Andeutungen, dann in abrupten Brüchen. Als die beiden Versehrten schließlich aufeinandertreffen, ist es Şhenaz‘ Aufgabe, die tief traumatisierte Elmas aus ihrer psychischen, von Erstickungsgefühlen gekennzeichneten Gefangenschaft zu lösen. Dabei erlebt die Therapeutin selbst eine Art Befreiung. In intensiven, hervorragend gespielten Therapieszenen folgt Elmas den Spuren ihrer Traumata und vergegenwärtigt diese in geradezu seelischen Eruptionen. Während sich ihre Spannungen und Ängste allmählich zu lösen beginnen, erlebt Şhenaz eine sexuell beglückende Affäre mit einem Kollegen.
Yeşim Ustaoğlu wendet sich in ihrem bewegenden, spiegelbildlich gebauten Film dezidiert gegen destruktive Traditionen und die durch sie forcierte Unterdrückung weiblicher Identität und sexueller Selbstbestimmung. Dabei zeigt sie auch mit aller Härte auf den dünnen Firnis des zivilisatorischen Überbaus. In einer Traumsequenz wird einmal Şhenaz‘ Wohnung von hereinbrechenden Wassermassen überschwemmt, werden die Einrichtungsgegenstände von der Flut in Bewegung versetzt. Es scheint, als bedürfe der radikale Aufbruch in ein neues Leben reinigender Wasserfluten, die das Alte, Überkommene fortspülen.