In „El futuro perfecto“ (2016) porträtiert die deutsche Regisseurin Nele Wohlatz, die derzeit in Buenos Aires lebt, die chinesische Community in der argentinischen Metropole, reflektiert gleichzeitig aber auch ihre eigene Identität als Migrantin. Nele Wohlatz wurde 1982 in Hannover geboren, studierte Szenografie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe sowie Film im „Laboratorio de Cine“ der Universidad Torcuato Di Tella in Buenos Aires. Sie realisierte verschiedene Kurzfilme, drehte in Argentinien 2013 in Co-Regie mit Gerardo Naumann ihren ersten Langfilm Ricardo Bär, bevor sie mit „El futuro perfecto“ ihr Solo-Erstlingswerk vorlegte, das 2016 in Locarno seine Premiere feierte.
Geschätzt 100.000 „Argenchinos“ sind heute im Großraum Buenos Aires sesshaft – Festland-Chinesen, die zumeist in den 1990er Jahren ins Land eingewandert sind, als die damals streng neoliberal ausgerichtete argentinische Ökonomie einen (scheinbaren) Höhenflug erlebte. Die zweite Generation der chinesischen Migranten bilden die Kinder, die nachgeholt wurden, sobald sich nach entbehrungsreichen Jahren bei ihren Eltern eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit eingestellt hatte. Sie sind also „Kinder der Globalisierung“. Die Einwanderer der ersten Generation eröffneten kleine Supermärkte, Kioske, Wäschereien oder Restaurants und verwirklichten ihre eigenen, bescheidenen gesellschaftlichen Aufstiegsträume. Abgesehen davon, dass jeder chinesische Neuankömmling informell auf einen spanisch klingenden Namen getauft wird, handelt es sich um eine nur wenig integrierte, verschlossene Community mit minimalem Kontakt zur argentinischen „Außenwelt“. Dazu passt es, dass das Chinatown der Metropole von den „Porteños“ (den Bewohnern von Buenos Aires) als exotisches Ausflugsziel, nicht als integraler Bestanteil der eigenen Lebenswelt betrachtet wird.
„El futuro perfecto“ ist ein Film über kulturelle Hybridisierung und in sich selber ein Hybrid. Hat die Erzählung zunächst eine dokumentarische Anmutung, wird diese bald schon aufgebrochen. Porträtiert wird Xiaobin, die in China aufgewachsen ist und erst als junge Erwachsene von ihren Eltern nach Buenos Aires nachgeholt wurde. Sie spricht bei ihrer Ankunft in Argentinien kein Spanisch, trotzdem hat sie schon nach ein paar Tagen einen neuen Namen, Beatriz, und einen Job in einem chinesischen Supermarkt. Xiaobin möchte gegen ihre erzwungene Sprachlosigkeit ankämpfen und meldet sich – natürlich ohne das Wissen ihrer Eltern, die für ihre Tochter einen Platz in ihrer chinesischen Parallelwelt vorgesehen haben – für einen Spanischkurs an.
Regisseurin Nele Wohlatz zeigt den Alltag von Xiaobin in ihrer neuen Heimat und macht die Arbeit spürbar, die nötig ist, um sich in einer fremden Kultur zu Hause zu fühlen. Der Zuschauer begleitet die Adaptionsprozesse der jungen Frau an die unbekannte Stadt, unvertraute Sprache und auch eine neue Gefühlswelt. Als ihre Sprachkenntnisse besser und komplexer werden, wirkt das auf ihre soziale und kulturelle Realität aus. Schon bald lernt Xiaobin Argentinier kennen und sie beginnt eine Beziehung mit Vijay, einem Inder, den sie an ihrem Arbeitsplatz kennengelernt hat. Nele Wohlatz zeigt den Entwicklungsprozess von Xiobin fragmentarisch und eher subtil. Vieles bleibt nur Andeutung. Dennoch wird schnell deutlich, dass die junge Frau mit besseren Sprachkenntnissen an Souveränität gewinnt. In dem Moment, in dem sie lernt, sich im Konditionalis, der Möglichkeitsform, auszudrücken, verändert dies auch den Film selber. Auf formaler Ebene – wo eine zunehmende Komplexität und Verspieltheit im Aufbau der einzelnen Szenen zu beobachten ist – wie auch inhaltlich.
Xiaobin schafft es, ihre chinesische mit ihrer neuen Identität zu verbinden – sie entwickelt also ein neues „Ich“. Sie überlegt sich Optionen für ihre eigene Zukunft und greift damit in das Drehbuch ein, wird quasi zur Co-Autorin. Literaturwissenschaftler würden vermutlich von einer „Metalepse“ sprechen; viel treffender ist aber die Bezeichnung des Filmkritikers Roger Koza als „linguistische Komödie“, denn „El futuro perfecto“ reflektiert zwar sehr intelligent Konstruktivismus und die linguistische Komplexität, die unser Leben und Handeln bestimmt, hat aber auch einen lakonischen, gleichzeitig leicht melancholischen Humor. Allemal ist es interessant, dass eine aus Deutschland stammende Regisseurin frischen Wind in das zuletzt etwas stagnierende „Nuevo cine argentino“ gebracht hat. Für seine originellen Sichtwechsel, der neue Perspektiven eröffnet, wurde „El futuro perfecto“ unter anderem beim 69. Internationalen Filmfestival von Locarno (2016) oder zuletzt beim 25. Internationalen Filmfest Hamburg (2017) ausgezeichnet.
Natürlich fließen auch die eigenen Erfahrungen der Regisseurin mit in die Entstehung des Films hinein. Wie sie in einem Skype-Interview verriet, hatte Nele Wohlatz die Idee zum Drehbuch in einem Moment der Krise: Zwar lebte sie schon einige Jahre in Buenos Aires, sprach schon sehr gut Spanisch, wusste aber trotzdem nicht, wie sie ihre Arbeit in einer fremden Kultur ausüben könne. Um Regie zu führen, muss man zwischen den Zeilen lesen können, also auch die Nuancen der Sprache des Gastlandes verstehen und kommunizieren können. Ansonsten kann es sehr leicht passieren, dass wichtige Informationen verloren gehen; die Verbindung zu den Mitarbeitern kann dann nicht mehr gewährleistet werden und im schlimmsten Fall macht sich dann Unzufriedenheit breit – Bayern Münchens Ex-Trainer Carlo Ancelotti wird diese Aussage vermutlich unterschreiben. Nele Wohlatz wollte daher aus der Not eine Tugend machen und einen Film über eine andere Ausländerin und deren Adaptionsprozess in deren neuen Heimat drehen, bei dem eine gemeinsame fremde Perspektive auf Buenos Aires zum Thema gemacht wird. Nele Wohlatz sieht als eines der größten Probleme beim Identitätswechsel durch Migration den „Sprachverlust“. Gemeint ist damit das Problem, komplexe Gedanken und Fantasien nicht mehr in der Muttersprache kommunizieren zu können. Sie wollte weder die ökonomischen Prozesse der Globalisierung, noch die Diskriminierung der Migranten thematisieren, sondern das „Trauma“, das sie und ihre Protagonistin teilen.
Sie machte sich an der Sprachschule, an der sie selbst arbeitete, auf die Suche nach einer Darstellerin und fand Xiaobin, eine junge Frau mit Schauspieltalent und gleichzeitig einer interessanten und starken Persönlichkeit. Sie war erst wenige Monate zuvor nach Argentinien eingereist und besitzt den Ehrgeiz, in ihrer neuen Heimat etwas aus ihrem Leben zu machen, wozu sie in China niemals die Chance gehabt hätte. In Buenos Aires hat Xiaobin erstmals seit ihrer Kindheit ihre Eltern wiedergesehen, die für sie allerdings einen traditionellen, unterordnenden Platz in der Familie vorgesehen haben. Integriert wird in den Film Xiaobins coming-of-age-Prozess, die Durcharbeitung des latenten Konfliktes mit ihnen. Die heimliche Beziehung zu ihrem indischen Freund – die ultimative Provokation und Infragestellung der elterlichen Autorität– ist nahezu ein „Geschenk“ für die Entwicklung einer Dramaturgie der Handlung.
Vor dem Casting hatte die Regisseurin nicht explizit geplant, mit Asiaten zu arbeiten, musste aber feststellen, dass die Spanisch-Kurse für Ausländer fast ausschließlich von chinesischen Schülern besucht werden. Nele Wohlatz sah dies als Herausforderung, die natürliche Distanz zu dem ihr bislang fremden Kulturkreis erkannte sie sogar als Vorteil für den Arbeitsprozess. Die Arbeitssprache beim Dreh war ein bruchstückhaftes, und dann ein immer komplexer werdendes, aber immer noch gebrochenes Spanisch. Kein Übersetzer wurde als Vermittler eingesetzt, dafür spielen aber die absurd anmutenden „Readymade-Dialoge“ in Basis-Vokabular aus den Sprachbüchern, die auch Xiaobin verwendete, eine wichtige Rolle für die Entwicklung und Umsetzung des Drehbuches: „Die Dramatik entstand aus dem Zwang, sich selbst in den vorgegebenen, vorgefertigten Dialogen, die eigentlich Fiktion sind, wiederfinden zu müssen und einen Sinn herzustellen. Es stellte sich die Frage, wie weit man damit kommt und wie man sich hilft, wenn die Sprache einen nicht weiterbringt“. Die kulturelle Adaption ist nicht nur das Thema, sondern wird zur Basis, auf die der Entstehungsprozess des Films, später dann die ganze Filmsprache von „El futuro perfecto“ (Kameraführung, Schauspiel, Dialoge, Montage, mise-en-scène) aufbauen.
„Zunächst haben Xiaobin und ich über einige Monate viel Zeit miteinander verbracht, haben viel unternommen, auch um gegenseitiges Vertrauen zu gewinnen. Dabei habe ich Fragen über ihre Erlebnisse in Argentinien gestellt. Wir haben uns über unsere Erfahrungen als Fremde in Buenos Aires ausgetauscht und ich habe all die Anekdoten, Observationen und Geschichten gesammelt, die für den Film interessant sein könnten. Ich habe auch nach szenischem Material gebohrt. Es ist also in einem Entwicklungsprozess ein Treatment entstanden. Als dann klar war, dass sie sich selber spielen sollte und wollte, stellte sich dann die Frage, wie wir es schaffen, diese Übersetzung zu machen, sodass sie ihr eigenes Leben als Darstellerin repräsentieren kann. Parallel habe ich angefangen, mit ihr Schauspielübungen zu machen. Um eine dramatische Struktur für den Film zu entwickeln und ihre Erfahrungen, die sie mir erzählt hat, szenisch umzusetzen, habe ich Pío Longo als Co-Autor hinzugezogen, der bei den Schauspielübungen dabei war. Wir haben Dialoge geschrieben und zusammen im Drehbuch die Szenen eingearbeitet, bei denen wir das Gefühl hatten, dass Xiaobin diese gut umsetzen könne. Wir haben so etwas wie ein ABC ihrer schauspielerischen Möglichkeiten entwickelt. So hat sie auch Selbstvertrauen entwickelt. Alles verlief parallel. Xiaobins tatsächlicher Sprachlernprozess, all ihre Errungenschaften und Entwicklungen, wurde in die Dreharbeiten als dramatisches Material mit eingebracht. So wurde die Handlung Stück für Stück vervollständigt. Das Ganze lief sehr organisch ab“. Gearbeitet wurde in einem kleinen Team, da es sich bei „El futuro perfecto“ nahezu um eine No-Budget-Produktion handelt; gedreht wurde im argentinischen Sommer – allerdings nur am Wochenende, da Xiobin auch während des Produktionsprozesses weiterarbeiten musste. Selbst die Locations konnten nicht lange angemietet werden, deswegen standen für die Aufnahmen mit den (zumeist) nicht-professionellen Schauspielern auch nur wenige Takes zu Verfügung, was aber kein Nachteil ist und eher die dokumentarische Anmutung des Films unterstreicht.
Es gibt es einige Szenen im Film, die in der Sprachschule spielen. In ihnen werden chinesische Sprachschüler bei ihren Verständnis- und Sprechübungen gezeigt. In ihren Texten kommentieren sie Xiaobins Anpassungsfortschritte und verleihen dem Film gleichzeitig eine feste Struktur wie auch den komischen Grundton: „In dem Moment, in dem das szenische Treatment fertig war und wir das Gefühl hatten, dass Xiaobin in ihren Möglichkeiten als Schauspielerin solide ist, habe ich dann angefangen in der Sprachschule einen Workshop für chinesische Spanisch-Studenten zu geben. Eine Hypothese war gleich zu Beginn des Schreibprozesses, dass es immer diesen Wechsel zwischen Szenen aus Xiaobins Leben und Szenen aus der Sprachschule geben soll und dass diese Unterbrechungen in der Sprachschule chorisch funktionieren sollen. Im griechischen Theater gibt es diesen Chor, der die soziale peergroup des Helden oder der Heldin repräsentiert, das Geschehen kommentiert und auch Warnungen ausspricht. Es war also die Idee, dass das, was wir von Xiaobins Leben erfahren, immer wieder von dem Chor der chinesischen Spanisch-Schüler unterbrochen wird. Sie kommentieren das Ganze mit von uns erfundenen Texten aus einem Sprachlehrbuch. Damit entsteht eine Dynamik und Struktur. Die Geschichte kommt immer dann voran, wenn Xiaobin was Neues gelernt hat. Ihren Input aus der Sprachschule, verarbeitet sie direkt auf der Straße. Sie wendet die gelernten Texte an. Je mehr sie lernt, desto komplexer wird, desto mehr Facetten bekommt ihr Leben in Buenos Aires. Sprache ist ein dynamisches Instrument. Ich dachte dann, dass die Erzählung mit dem Erlernen der Möglichkeitsform aufhören sollte. Also die Form, die – so die Hypothese – zumindest im Spanischen dein Denken vervollständigt, weil du anfangen kannst, in die Zukunft zu projizieren. Zunächst dachte ich noch, dass der Film dokumentarischer werden könnte, als er sich am Ende anfühlt. Ich fand die Idee interessant, dass ein Dokumentarfilm die Zukunft der Hauptfigur miterzählt – was gleichzeitig ein wenig absurd und widersprüchlich ist. Am Ende habe ich Xiaobin erzählt, dass ich diese Idee habe, dass die Lehrerin in der letzten Stunde so etwas wie eine mündliche Prüfung durchführt, wo sie den Gebrauch des condiconal, der Möglichkeitsform im Spanischen, prüft und Xiaobin könnte sich dann vorstellen, was sie wolle. Das Thema müssten nur ihre Eltern und ihr Freund sein. Am gleichen Abend habe ich dann eine Mail von Xiaobin mit dem Betreff ‚Mis futuros’ (‚Meine Zukünfte`) bekommen. Das sind dann genau die Beschreibungen, die dann im Film auch umgesetzt werden“.
Dass es für sie natürlich war, bei ihrer „Übersetzung“ von Xiaobins Adaptionsprozess in filmische Mittel, reale Begebenheiten zu fiktionalisieren, Imagination und Fakt zu vermischen, sieht Nele Wohlatz auch in ihrer eigenen kulturellen Hybridisierung begründet: „In Argentinien gibt es ein anderes Verhältnis zu der Vermischung von Fakt und Fiktion. Nicht so eine strikte Trennung. Manchmal glaube ich, dass es eine eigene Tradition gibt, deren Vertreter beispielsweise die Schriftsteller Jorge Luis Borges, Macedonio Fernández oder Ricardo Piglia sind. In ihrer Literatur, aber auch im Film, finden sich Beispiele, in denen das Medium untersucht, reflektiert und – in einem poetischen Sinn – auch in Frage gestellt wird.“
Ihren eigenen Filmstil sieht sie in der Tradition Robert Bressons verortet. Von ihm hat sie gelernt, „zu akzeptieren das man nicht immer alles versteht – nicht von uns, auch nicht vom Nächsten; dass das Leben einfach ziemlich mysteriös ist und dieses psychologische Spiel, in dem Schauspieler versuchen, die verschiedenen Ebenen ihres Charakters zu erklären, nicht viel Sinn macht“. Beeinflusst haben sie aber auch die selbstreflexiven Filme von Abbas Kiarostami (etwa „Close-up“, Iran 1990), bei denen die brüchige Grenze zwischen Fakt und Fiktion, Darstellung und Wirklichkeit erkundet wird und wo „das filmische Dispositiv auf eine andere Ebene gehoben wird, wo Kategorien aufgelöst werden und etwas passiert, was nur mit Mitteln des Films passieren kann“. Ein Bezugspunkt aus dem argentinischen Kino sieht sie in den Filmen Martín Rejtmans („Dos disparos“, 2015), u.a.). Dieser ist ein Schüler im Geiste von Robert Bresson. Von ihm hat Nele Wohlatz den komischen, gleichzeitig melancholischen Grundton des Films übernommen.
Eine gewisse „Starpower“ bekommt „El futuro perfecto“ durch den Gastauftritt von Nahuel Pérez Biscayart – derzeit einer der wenigen lateinamerikanischen Schauspieler, die gerne in europäischen Produktionen eingesetzt werden (etwa in Maria Schraders „Vor der Morgenröte“ oder in Robin Campillos mehrfach prämierten Film „120 BPM“, der ab Ende November auch in Deutschland in die Kinos kommt). Er repräsentiert die Entwicklung Xiaobins: „Anfangs sind der Aufbau der Szenen sehr einfach und schematisch. Alles Argentinische befindet sich im off. Der ganze Film wird aus der Perspektive von Xiaobin erzählt. Weil sie zu Beginn des Films keinen Bezug, auch keinen kulturellen Bezug zu der neuen Stadt hat, ist Buenos Aires und alles Argentinische zunächst nur schemenhaft sichtbar. In den ersten Szenen hört man Personen Spanisch sprechen, sieht sie aber nicht vollständig, erkennt auch nicht ihre Gesichter. Dies ist ein Mittel, um Xiobins Isolation und Fremdheit zu erzählen. Aus diesem Grund spricht sie anfangs auch kein Chinesisch. Später dann, als sie sich komplexer auf Spanisch ausdrücken kann, macht es Sinn, dass Argentinier, also etwa Nahuel, zu sehen sind. Erst dann kommen auch die Szenen, wo sie die Möglichkeit bekommt, sich auf Chinesisch auszudrücken. Mir ging es darum zu zeigen, wie sie sie es schafft, ihre zwei Identitäten parallel zu leben und ‚zwischen zwei Welten hin und her zu springen’. Aber vor allem habe ich mit den Spanischstunden versucht herauszuarbeiten, dass das Lernen einer neuen Sprache das gleiche ist, wie die Arbeit eines Schauspielers. Im Theater bekommen die Schauspieler ihren Text ausgehändigt und es wird ihnen beispielsweise gesagt: ‚Du bist Hamlet!’ Oder: ‚Du bist Lady Macbeth. Dann durchlaufen die Schauspieler den ganzen Probenprozess, bei dem sie herausfinden müssen – mit der einen Schauspieltechnik oder der anderen – wie sie tatsächlich Hamlet oder Lady Macbeth sein können und der Rolle einen Körper geben können. Die Sprachschule ist eine Art Probebühne für die neue Identität, die man nach der Migration annimmt. Erwachsene müssen sich diese absurden, fiktiven Texte aus den Sprachbüchern aneignen – Dialoge, die im Café, im Zoo oder im Theater spielen. Man spielt die Sprache wie den Text für eine fremde Rolle. Die Kunst liegt darin, die Rolle wirklich zu lernen und darstellen zu können. Man muss sich in die neue Rolle einfinden und ihr Sinn geben und einen Weg finden, um beispielsweise ‚Argentinier zu sein’. Nicht immer hat das einen glücklichen Ausgang“.
Die Parallele zwischen der Arbeit eines Schauspielers und dem Erlernen der Sprache wird noch einmal durch den Auftritt von Nahuel Pérez Biscayart hervorgehoben: „Ich wollte eine Szene, in der deutlich wird, dass es einen Zeitsprung gegeben hat. Zusammen mit ihren Mitschülern setzt Xiaobin außerhalb der Schule auf spielerische Art den Unterricht fort. Es sollte auch ein argentinischer Freund dabei sein. Für diese Szene hatte ich das Motiv des Weinens vorgesehen. Ich dachte, der Freund könnte Schauspieler sein und er könnte ihnen künstlich zu weinen beibringen, weil es da auch wieder darum geht, eine Rolle zu lernen. Ebenso geht es um die Frage, wie Fiktion hergestellt wird. In einer möglichen Zukunft, die sie sich ausmalt, wird Xiaobin aus der Wohnung ihres Freundes von ihrem Vater mit dem Auto abholt. Sie weint, aber weint sie dann wirklich? Oder beherrscht sie die Technik perfekt? Mit dem Auftritt von Nahuel ändert sich der Ton des Films. Der Aufbau der Szenen, die ganze Filmsprache wird komplexer. Nahuel hat an der gleichen Sprachschule, in der wir gearbeitet haben, Chinesisch gelernt. Und ich kannte ihn, weil er bei mir für eine Filmproduktion Deutsch gelernt hat. Es hat also Sinn gemacht, dass er diese Rolle übernommen hat. Man braucht, wenn man Laiendarsteller mit professionellen Darstellern mischt, extrem sensible, gute und professionelle Schauspieler, die es schaffen, sich auf den Ton der Laiendarsteller einzulassen. Nahuel hat dies geschafft“.
„El futuro perfecto“ ist aber nicht die einzige aktuelle argentinische Produktion, die von den asiatischen Communities im Land erzählt. Zumeist stammen diese Filme von Regisseuren, die selbst zur zweiten Einwanderergeneration zu zählen sind.
Juan Martín Hsu, Sohn taiwanesischer Eltern, hebt in seinen Filmen die positiven Aspekte der Interkulturalität hervor. Er sieht Einwandererkinder als Brücke zwischen verschiedenen Kulturen. Er drehte 2014 sein Erstlingswerk „La salada“. Sein Nachfolgefilm, „Diamante mandarín“ (2015), hat sich die größte Zäsur der jüngeren argentinischen Geschichte zum Thema gemacht und erzählt davon, welche sozialen Folgen der Staatsbankrott des Landes im Dezember 2001 für die asiatischen Gemeinschaften hatte. Der aus Buenos Aires stammende Marcos Rodríguez wiederum untersucht aus nahezu kulturanthropologischer Perspektive in „Arribeños“ (2016) das nachbarschaftliche Mit- und Nebeneinander von Argentiniern auf der einen, Chinesen und Taiwanesen auf der anderen Seite in der Chinatown von Buenos Aires. Ein weiteres Beispiel ist „Mi último fracaso“ (2016): Die junge Regisseurin Cecilia Kang präsentiert dem Zuschauer in ihrem dokumentarischen, beziehungsweise dokumentarisch anmutenden Erstlingswerk den Alltag einer Gruppe von Frauen koreanischer Herkunft. Teilweise wurden ihre Protagonistinnen sogar in Argentinien geboren, komplett in ihrer neuen Heimat verankert sind sie aber alle nicht.
Auffällig ist, dass sich alle genannten Filme dem Thema der Migration und den daraus entstehenden kulturellen Zwischenwelten betont sensibel annähern. Allerdings sprechen wir hier vom Independent-Kino; Großproduktionen, wie Sebastián Borenszteins „Un cuento chino“ (2011), um ein Beispiel zu nennen, das auch in Deutschland im Kino zu sehen war, greifen durchaus auf schnelle Pointen und billige Klischees zurück.
Das Interview mit Nele Wohlatz wurde Anfang April 2017 via Skype geführt. Der letzte Abschnitt, ist ein Auszug aus dem Artikel „Neue Perspektiven im argentinischen Kino“, der in der Ausgabe 5/2017 im Filmbulletin erschienen ist.