Wer erinnert sich noch, wann er das erste Mal auf ein Wimmelbild geguckt hat? Oder später als gelehriger Schüler oder wissensdurstiger Studi auf den mittelalterlichen Bruegel („Triumph des Todes“), auf Menschen, die nichts zu sagen hatten? Okay, dann ist »Happy End« die Fortsetzung.
Inzwischen, im 21. Jahrhundert, sind wir zivilisierter geworden. In Michael Hanekes in Calais gedrehtem Film sind wir in der gehobenen feinen Gesellschaft, die dort das Sagen hat. Die Elite, geschult in nur ihr zugänglichen Akademien, bewahrt die Contenance – nach außen hin. Intern gibt’s Hauen und Stechen (Wer kriegt die Firma?), untereinander (der Sohn gehorcht nicht, am Ende hilft Isabelle Huppert mit einem kräftigen, aber dezenten Stich in den Bauch), gern aber machen die Angehörigen der standesgemäß disziplinierten Führungsriege mit sich selbst Schluss, der Sippenchef Jean-Louis Trintignant ein ums andere Mal. Keine Sorge! Die Rechtsanwälte machen einen Unfall draus. Die Mutter liegt schon im Sterben, die 13jährige hat’s auch schon versucht. Aber pst!
Und jetzt zu mir. Warum erzähl’ ich den Plot nicht? Was ist mit der narrativen Ebene? Gegenfrage: Gibt’s beim Wimmelbild eine Handlung? Der österreichische Regisseur bietet in seiner emotionslosen Faktensammlung eine mehr als 100 Minuten lange Aufzeichnung naturwissenschaftlicher Art, dokumentarisch. Musik wird nicht eingesetzt. Zwischen den vielen Miniszenen gibt es Pausen. Die Darsteller sehen wir zum guten Teil schweigen. Wenn Geräusche zu hören sind, dann auf der Straße.
Gegen alle Wahrscheinlichkeit wächst beim Anschauen die Anteilnahme, jedenfalls meine. Die 13jährige wird zur (kommunikationslosen, autistischen) Hauptperson. In ihr sind Gefühle gespeichert, zum Bersten voll. Sie schiebt den Rollator mit dem Opa hilfreich ans Wasser, damit endlich der Suizid klappt: im Ärmelkanal. Sie filmt das Event mit ihrem Smartphone.
Der Sohn, der die Firma nicht übernehmen will, übernimmt ein halbes Dutzend schwarze Flüchtlinge aus den Lagern von Calais und schleust sie in das Festdiner ein. Die Oberschichtmänner beginnen, sich zu kloppen.
Und wieso ist das das Happy End? Wer Hanekes Mord- und Selbstmordfilm „Liebe“ gesehen hat, erwartet eine Antwort, eine Antwort anderer Art. Wie wär’s damit, dass die herrschende Elite glücklicherweise mit sich selbst ein Ende macht?
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Happy End“.