Die Graphic Novel „Polina“ (dt. bei Reprodukt) von Bastien Vivès ist einer dieser Comics, die man skeptisch beginnt und dann mit zunehmender Begeisterung liest. Die Geschichte einer Ballerina, wie soll das gehen in einem Medium, das Bewegung nur stilisieren kann und auch noch stumm ist? Nicht mal Farben setzt der junge Franzose ein, um die Geschichte zu erzählen. Aber es funktioniert. Sogar atemberaubend.
Valérie Müller und Angelin Preljocaj, die Regisseure der Filmadaption, haben da quasi einen Heimvorteil, denn Bewegung und Musik gehören zu ihrem Medium dazu. Und dennoch gibt es erstaunlich wenig Filme, die sich ernsthaft mit Tanz oder Ballett befassen. Robert Altmans „The Company“ fällt einem ein, „Die roten Schuhe“ von Michael Powell und Emeric Pressburger, mit etwas gutem Willen vielleicht noch Darren Aronofskys „Black Swan“, dann wird es aber auch schon dünn. Um so großartiger, was Müller und Preljocaj da geleistet haben. Denn „Polina“ ist nicht nur eine mehr als würdige Adaption des Comics – mit ganz eigenen Mitteln –, sondern auch ein herausragender Film über eine Ausdrucksform, die irgendwo zwischen Hochleistungssport und Kunst angesiedelt ist.
Polina ist blutjung, als sie beim Ballett abgegeben wird, und schnell ist klar, dass auf ihr die Hoffnungen ihrer Eltern ruhen, dem tristen russischen Alltag einmal zu entfliehen. Irgendwo am Horizont lockt das Bolschoi und damit ein Traum, der sich nur für wenige erfüllt. Aber schon eine sehr frühe Montage im Film zeigt, dass das nicht Polinas Weg sein wird. Denn parallel erleben wir, wie sie im kalten Ballettsaal die immer gleichen Übungen unter den strengen Augen ihres Lehrers durchführt und draußen im Schnee vor den rauchenden Kühltürmen eines Kraftwerks ganz unbefangen und so gar nicht wie eine Ballerina herumtanzt.
„Polina“ ist insofern auch ein Film übers Erwachsenwerden, über die Schwierigkeit, eigene Wege auch gegen Widerstände zu gehen, Scheitern nicht ausgeschlossen, ja nicht einmal unwahrscheinlich. Und tatsächlich ist Polinas Weg steinig. Erst hakt sie das Bolschoi ab, dann kommt sie nach Frankreich, später nach Belgien und ihr Leben wird nicht unbedingt besser. Tatsächlich ziehen Müller und Preljocaj hier eine Ebene ein, die bei Vivès keine große Rolle spielt. Denn Polina hat kein Geld und muss sich irgendwie durchschlagen, wie so viele junge Künstler, die ihren Traum leben und es doch nie richtig schaffen. Und wer jetzt glaubt, am Ende kommt der große Erfolg und alles wird gut, hat nicht mit dem Mut der Filmemacher gerechnet, die sich am Schluss weit von der Vorlage entfernen und ein erheblich offeneres, fast schon mystisches Ende wählen, das viel Spielraum lässt für Interpretationen.
Und auf dem Weg dahin ist „Polina“ ein Rausch der Bilder, der mit typischem Erzählkino eher wenig zu tun hat. Die Geschichte ist der Rahmen für die Tanzdarbietungen, die – und das kann man gar nicht genug betonen – nie zur Nummernrevue werden. Hier geht es vor allem um harte Arbeit, um ständiges Üben und Wiederholen, um Verletzungen und Probleme. Bemerkenswert, dass man nicht einmal auf die Geräusche verzichtet, die die Tänzer zwangsläufig machen; da wird nicht das „Leichte“ suggeriert, indem man den O-Ton ausblendet und die Musik reinregelt. Erst ganz am Schluss sieht man eine ganze Choreografie – und auch das nur: vielleicht.
Diese Kritik erschien zuerst auf: Comic.de