Wer sich dieser Tage mal die documenta 14 anschaut, wird vielleicht bemerken, dass es ihr an zwei Dingen mangelt: an Ironie bzw. Humor und an Provokation im kreativen Sinne. Mittlerweile 20 Jahre ist es her, als Christoph Schlingensief und sein Mitarbeiter Bernhard Schütz es schafften, für die Kunstperformance „48 Stunden Überleben für Deutschland“ auf der documenta 10 polizeilich abgeführt und kurzzeitig festgenommen zu werden. Heute ist dergleichen auf der documenta undenkbar, auf der bierernst und über jeden inneren Diskurs erhaben, ausgestellt und angeprangert wird, in welch unerträglichem Zustand unsere Welt sich befindet – mit Recht einerseits und eben auch leblos, weil eine nur leicht getönte Kopie von was auch immer eben wenig Kunst ist und selten neues hervorzubringen vermag. Man hat den Eindruck, dass die documenta lediglich das moralisch angezeigte schlechte Gewissen streicheln und hegen soll, aber verändern, bewegen, anstoßen, aktivieren, ins Herz der Besucher zu gehen, das scheint sie nur in Ansätzen zu wollen oder wenigstens zu schaffen.
Schlingensief hat es damals vorgemacht, wie man Dinge bewegt und gleichzeitig gezeigt, was Kunst sein und tun kann. Er griff damals auf, was Joseph Beuys als „Soziale Plastik“ entworfen und entwickelt hatte. Was bei Beuys noch ein eher positiver und kulturell und politisch gestalterisch und basisdemokratischer Ansatz war, wurde bei Schlingensief zu einem Fracking für kulturelle Blähungen. Er setzte Sprengsätze an, übte Druck auf gesellschaftlich neuralgische Punkte aus, und fand immer wieder, in seinem integrativen Charisma vergleichbar mit Fassbinder, Anhänger, Ausführende dieser Sozialen Plastiken. Soziale Skulpturen, die immer auch in Gestalt von seinen Filmen, Theaterstücken, Talkshows oder eben Kunstaktionen entstanden, mit Schlingensief als crazy agent, die Dynamiken der Gruppe(n) und der Individuen aktivierend und provozierend.
Auch die sich über anderthalb Jahre erstreckende Kreation der Partei „Chance 2000“ mit ihrem programmatischen Motto „Scheitern als Chance“ gehört zu den großen Sozialen Plastiken Schlingensiefs. Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl 1998 registriert Schlingensief die „Stimmung im Lande“ angesichts der 16 Jahre währenden Amtszeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl, eine Art Übersättigung, einen Stillstand, gepaart mit dem Gefühl, keinen Einfluss auf die Politik mehr zu haben, und modelliert, triggert daraus einen der wenigen politisch-künstlerischen Aufreger dieser Jahre, in denen es noch keinen IS gab, in denen Selbstmordattentate noch etwas Makaber-Exotisches waren, eine Zeit, in der das Skandalöseste, was ein US-Präsident tun konnte, war, sich oral von einer Praktikantin befriedigen zu lassen. Es war eine verhältnismäßig friedliche Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, aber auch eine Zeit, in der man realisierte, dass der Traum einer sozial gerechteren Welt schier ausgeträumt war, denn es gab ja keine „real existierenden“ Modelle dafür mehr, es gab nur noch funktionierenden und enthemmten Kapitalismus, der mehr und mehr zu einer rücksichtslosen Globalisierung mutierte, ausgebeutete Arbeitskräfte in den Billiglohnländern, Arbeitslose in den traditionellen Industrienationen. Auch hier setzte „Chance 2000“ thematisch an. Wenn, in typisch schlingensiefscher Manier, anstatt von etwa damals 4 Millionen Arbeitslosen von 6 Millionen Arbeitslosen die Rede ist, „sechs Millionen Unsichtbaren“, die wieder „lebendig werden müssen“, dann liest Schlingensief deutsche Geschichte quer und konnotiert den Mord an 6 Millionen Juden mit den in „Vergessenheit geratenen“ 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland. Ein gewagter und politisch ziemlich inkorrekter Vergleich, an den eine Kunstaktion der documenta 2017 erinnert, wo die europäische Ignoranz des Sterbens tausender Bootsflüchtlinge im Mittelmeer mit dem Wort „Auschwitz on the Beach“ charakterisiert wird. Beide Vergleiche brechen Tabus, Schlingensiefs etwas verstecktere Konnotation noch weit unverschämter als der Gedankengang, das „Salzwasser des Mittelmeers sei das neue Zyklon B“. Beides will aber nicht den Holocaust verharmlosen und verniedlichen, sondern provozieren und zu bedenken geben, welche politischen Bedingungen und Haltungen generell Tendenzen zur Unmenschlichkeit begünstigen.
Natürlich muss man die Gleichsetzung der Arbeitslosen 1998 mit den ermordeten Juden bei Schlingensief in einem völlig anderen Kontext verstehen. Bei Schlingensief geht es um Verdrängung, Ignoranz, ums Totschweigen als etwas dem Töten Verwandtes, deutsche „Tugenden“ also, die typisch deutsche Pathologien charakterisieren und wieder neue Pathologien produzieren. Der Gesamtrezipient Schlingensief stürzt sich auf und in diese Pathologien und bringt sie zum Schwingen und Vibrieren, indem er gleichermaßen diffus und agitatorisch durch Fernsehtalkshows tingelt, auf unzähligen Parteiveranstaltungen wirkt wie ein Rudi Dutschke, quasi ein neuer Messias – und dabei sinngemäß skizziert, dass er keine Antwort habe und dass eben das seine Antwort sei. So sieht ihn Deutschland bei Polit-Talkerin Sabine Christiansen in Gegenwart von Bernhard Brink proklamieren: „Wir sind die Partei, wir sind der Bodensatz“, bei Alfred Biolek (ein Förderer der ersten Stunde) in Gegenwart von Hannelore Elsner und Hella von Sinnen: „Aus ‚Tötet Helmut Kohl‘ ist ‚Helft Helmut Kohl‘ geworden.“ Schlingensief redet vom „Scheitern als Chance“ proklamiert Verstörendes wie „ Wähle dich selbst, töte dich selbst!“, Erkenntnisse wie „Alle Minderheiten zusammen sind die Mehrheit!“, „Wir wollen nur wieder merken, dass wir was gemacht haben“. Mit gekonnten, eingängigen Slogans solcher Art (je widersprüchlicher, desto faszinierender) jongliert er mit den Ängsten und Hoffnungen und schließlich unbewussten Schichten seiner Anhänger und Parteimitglieder, dabei jeder/m ihren/seinen ganz individuellen Entfaltungsraum gebend, ja geradezu ihn einfordernd. „Chance 2000“ ist wie ein schnell wachsendes Bäumchen, dessen Wurzel Schlingensief ist, dessen Nahrung aber die Individuen seiner MitmacherInnen sind. Mit dabei: Dietrich Kuhlbrodt in seiner Eigenschaft als Ex-Oberstaatsanwalt, Carl Hegemann, Tom Tykwer, Harald Schmidt als Vereinsgründungsmitglied und viele Schauspieler, Behinderte und Artisten.
Die spektakulärste Aktion von „Chance 2000“: Mit möglichst vielen (es waren vielleicht maximal 100 Leute) der „6 Millionen Arbeitslosen“ den Urlaubsort von Helmut Kohl besuchen, gemeinsam baden gehen und dadurch den Pegel des Wolfgangsees so weit ansteigen lassen, bis der Ferienbungalow des Kanzlers unter Wasser steht. Auch hier ist die Idee das Revolutionäre, nämlich die Vorstellung, dass das die „Unsichtbaren“ sichtbar und spürbar werden könnten, real werden könnten. Rein physikalisch, erzählt Schlingensief nebenbei, hätten 6 Millionen Körper den Pegel des Wolfgangsees lediglich um 2-3 Zentimeter angehoben. Aber hier geht es um die Welt als Vorstellung, um gefühlte Utopie und nicht nur um Kunst, die dann eben keine Wirkung mehr hat, wenn man sie als solche bezeichnet.
Das Schlingensief-Feeling fehlt uns heutzutage, und es scheint keiner in Sicht zu sein, der da anknüpft, wo er, der Getriebene, mit 49 Jahren vor heute, 2017, sieben Jahren aufgehört hatte. Die Dokumentation „Chance 2000“ von Frieder Schlaich und Kathrin Krottenthaler ist ein posthum aus 90 Stunden vorhandenem Filmmaterial zusammengestellter, unkommentierter Rückblick von heute auf ein Gestern, in dem die Welt noch so beruhigend langweilig war, dass man dankbar für jeden Wirbel war. Ein Rückblick, der trotz aller inhaltlichen Vitalität des gezeigten Aktionismus, wie ein Blick in eine entfernte Welt schaut, der man nachtrauern kann, aber die unwiederholbar zu sein scheint. Das Feuer von Schlingensiefs Spektakeln, das einen in Filmen wie etwa Paul Poets „Ausländer Raus!“ heute immer noch direkt anspringt, geht dieser sorgfältigen Chronologie der Ereignisse manchmal ein wenig ab. Gucken Sie sie trotzdem an, denn es brennt darin immer noch heiß genug!