Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte

(CZ/SK/AT 2024; Regie: Klára Tasovská)

Fotografische Selbstsuche

Selbstzweifel, die Angst vor dem Scheitern und Fragen nach der eigenen Identität grundieren und durchziehen Klára Tasovkás dokumentarischen Essayfilm „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ über die lange Zeit unbeachtet gebliebene tschechische Fotografin Libuše Jarcovjáková. Der schillernde, zwischen Wissen und Nicht-Wissen changierende Titel gibt eine Bewegungsrichtung mit nur vermeintlich sicherem Ziel vor. Dabei beschreibt er einen möglicherweise nie abschließbaren Prozess der Annäherung an ein Ich, das immer weiter im Entstehen begriffen ist. „Ich werde wohl nie aufhören, zu fragen, wer ich wirklich bin“, lautet vermutlich deshalb der letzte Satz des Films. Klára Tasovská hat diesen vollständig aus Fotos und Tagebuchnotizen der Porträtierten montiert und ihm durch einen dynamischen, teils beschleunigten Schnitt die Anmutung bewegter Bilder verliehen. Unterlegt mit Geräuschen und rhythmisiert durch elektronische Beats entsteht so eine Art Fotofilm, zu dem Libuše Jarcovjáková selbst aus dem Off ihre von Brüchen gekennzeichnete Lebensgeschichte erzählt.

Diese beginnt im Prager Frühling des Jahres 1968, den die 16-jährige, aus einer „politisch verdächtigen“ Maler-Familie stammende Libuše als „Ende der Hoffnungen“ erlebt. Sie fotografiert russische Panzer, eine graue Welt in Schwarzweiß, aber auch die Stadt, den Fluss und Straßenszenen. Schon die angehende Fotografin ist dem Gewöhnlichen und der Welt des Alltags auf der Spur. Vor allem aber will sie ihre persönlichen Erfahrungen dokumentieren, um sich und ihr Leben besser zu verstehen. Die Kamera dient ihr dabei als „Navigationsgerät“, um ihr „wahres Ich“ zu finden. Die vielen, teils sehr intimen Selbstporträts geben Zeugnis von dieser exzessiven, lebenslangen Suche nach sich selbst. Mit dem Mittel der fotografischen Selbstbetrachtung will sie sich ihrer Existenz versichern. Dabei steht nicht die originelle Gestaltung im Vordergrund – obwohl ihre Fotos oft durchaus komponiert erscheinen -, sondern die spontane persönliche Perspektive, die Tasovská wiederum für ihren bemerkenswert spannenden Film übernimmt und die auch die Blickrichtung der Zuschauer bestimmt.

Jetzt ist nicht die Zeit für Kunst“, sagt ihre Mutter lapidar, als Libuše Jarcovjáková aus politischen Gründen nicht zum Studium zugelassen wird. Daraufhin will sie sich als Arbeiterin in einer Druckerei „bewähren“, fällt aber in Ungnade, weil sie betrunkene und schlafende Arbeiter, den Schmutz und das Hässliche einer „totalitären Realität“ fotografiert. Die unangepasste Fotografin mit der unsicheren Identität will leben, wie sie will und empfindet sich als „ausgestoßen im eigenen Land“. Sie fotografiert Roma und fühlt sich ihnen seelenverwandt, sie dokumentiert die queere Community des T-Club und findet dort Freundinnen und Freunde. Schließlich erlebt sie Schwangerschaften und Abtreibungen und droht dabei, ihre Selbstachtung zu verlieren. Mit Alkohol und Tabletten bekämpft sie ihre Depressionen.

Bei einer Reise nach Tokio, die sie 1979 unternimmt, kehren jenseits des „kommunistischen Käfigs“ plötzlich „die Farben des Lebens“ zurück. Mitte der achtziger Jahre kann sie durch eine Scheinehe dann nach Berlin fahren. Sie jobbt als Putzfrau und Zimmermädchen, hat einen Unfall und erlebt später, bei einem erneuten Aufenthalt in der geteilten Stadt, den Mauerfall. Immer hat sie den Fotoapparat dabei. Denn: „Meine einzige Überlebensstrategie ist das Fotografieren.“ So wird Libuše Jarcovjáková, die als Fotografin erst spät internationale Anerkennung erfährt, mit ihren Fotos nicht nur zur Chronistin ihrer selbst, sondern auch zur Zeitzeugin der jeweiligen Gegenwart, die sie umgibt.

Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte
(Ještě nejsem, kým chci být)
Tschechien/Slowakei/Österreich 2024 - 90 min.
Regie: Klára Tasovská - Drehbuch: Klára Tasovská, Alexander Kashcheev - Produktion: Lukás Kokes, Klára Tasovská - Bildgestaltung: Libuse Jarcovjakova - Montage: Alexander Kashcheev - Musik: Prokop Korb, Adam Matej, Oliver Torr - Verleih: Salzgeber - FSK: ab 16 - Besetzung: -
Kinostart (D): 27.02.2025

IMDB-Link: https://www.imdb.com/de/title/tt28090065/
Foto: © Salzgeber