Bird

(GB 2024; Regie: Andrea Arnold)

Kleine Fluchten

Die 12-jährige Bailey (Nykiya Adams) streift gerne allein durch die Natur und fühlt sich zu Tieren hingezogen. Mit ihrem Handy filmt sie durch die Drahtgitter einer Fußgängerbrücke hindurch den Flug einer Möwe. Ihre Sehnsucht nach Weite und Freiheit tritt in den ersten Bildern von Andrea Arnolds neuem Film „Bird“ in einen harten Kontrast zu den unwirtlichen Lebensverhältnissen einer ziemlich maroden Wohnsiedlung südöstlich von London. Hier lebt die Heranwachsende zusammen mit ihrem Halbbruder Hunter (Jason Edward Buda) und ihrem noch sehr jungen Vater Bug (Barry Keoghan) in einer heruntergekommenen, verwahrlosten Wohnung und ist sich weitgehend selbst überlassen. Bailey wirkt unzufrieden und wütend. Und sie streitet mit ihrem Vater, weil dieser spontan seine neue Freundin heiraten möchte. Ihre Mutter, die noch drei weitere Kinder hat und mit ihrem gewalttätigen Freund in einer anderen Siedlung lebt, habe einmal gesagt, Bailey sei geboren worden, um Ärger zu machen.

Dabei sehnt sich das sensible Mädchen, das gerne ihre Umgebung beobachtet, doch nur nach Nähe und Liebe. Ihre Ausflüge in den Randzonen der Natur sind wie kleine Fluchten im Gefühl einer unbestimmten Sehnsucht. Wenn sie mit ihrem jugendlichen Vater, der selbst noch ein liebevoller Kindskopf ist, auf dem E-Scooter zu wilder Punkmusik durch die Straßen braust, sprengt das für lange Augenblicke die engen, perspektivlosen Verhältnisse. Dann taucht eines Tages wie aus dem Nichts der ebenso wunderliche wie zugewandte Bird (Franz Rogowski) auf. Dessen Leichtigkeit und tänzelndes Balancieren rücken ihn in die Nähe eines schwerelosen, fast schwebenden Vogelmenschen. Immer wieder sieht man den sympathischen Außenseiter auf Dächern im Zustand des Wartens. Bird ähnelt einer Phantasiegestalt und wird für Bailey – ähnlich wie der Kanarienvogel für den jugendlichen Helden in Jean-Claude Brisseaus Film „Lärm und Wut“ – zum Freund und Beschützer, den sie vielleicht nur imaginiert, um sich gegen eine schier erdrückende Wirklichkeit zu stemmen.

Wie in ihren früheren Sozialdramen filmt Andrea Arnold die harte Lebenswirklichkeit des dargestellten prekären Milieus mit einem rauen, ruppigen Handkamerastil. Dabei akzentuiert sie mehr Atmosphäre und Stimmungen als den Plot einer Coming-of-Age-Geschichte. Gegen die Unruhe eines unübersichtlichen, richtungslosen Lebens setzt sie immer wieder unspektakuläre Bilder einer Alltagsmagie. Wehende Vorhänge, bunte Wandverzierungen und Mut machende Tags oder auch Licht, das durch Türen und Fenster fällt, schaffen eine poetische Gegenwelt, die zusätzlich immer wieder von markanten Songtexten begleitet und beschworen wird. Im Mittelpunkt dieser positiven Utopie steht Bird. Er verkörpert gleichzeitig Tier und Mensch, Phantasie und Wirklichkeit und ist selbst eine Waise auf der Suche nach der verlorenen Familie. Zusammen mit Bird und ihren Geschwistern gelingt es Bailey bei einem gemeinsamen Ausflug ans Meer die Tristesse für einmal zu vergessen und einen gewichtigen Schritt hin zu sich selbst und damit zu den anderen zu machen.

Bird
Großbritannien 2024 - 119 min.
Regie: Andrea Arnold - Drehbuch: Andrea Arnold - Produktion: Lee Groombridge, Tessa Ross, Juliette Howell - Bildgestaltung: Robbie Ryan - Montage: Joe Bini - Musik: Burial - Verleih: MFA+ - Besetzung: Barry Keoghan, Franz Rogowski, Nykiya Adams, Jason Edward Buda, Jasmine Jobson, James Nelson-Joyce, Frankie Box
Kinostart (D): 20.02.2025

DVD-Starttermin (D): 03.07.2025

IMDB-Link: https://www.imdb.com/de/title/tt28277817/
Foto: © MFA+