Nonkonform

(DE 2023; Regie: Arne Körner)

Das ziemt sich nicht

Opa erzählt vom Krieg. Wie das damals war, in Hamburg, nachts, als Dreikäsehoch bei den Rauchern vor den Kellerbunkern. Die Stadt im Dunkeln und dann aber: was für ein Spektakel. Wenn die Bomber kamen. Wie es blitzte, brannte und zuckte – Feuerwerk. Opas lustige Augen sind wieder ganz die eines Kindes. Und wie es in der Schule war, wie man sehnsüchtig auf Kriegsverluste im eigenen Haus wartete. Denn dann konnte man weinen. Und dann kam die Lehrerin und nahm einen in den Arm. Die Lehrerin mit dem mächtigen Busen.

Äh, Moment mal, Opa. Das ziemt sich aber nicht, so über den Krieg zu reden. Auch Deutsche unter den Opfern! Was sich ziemt und was nicht, das ist Opa auf geradezu fröhliche Weise egal. Opa ist nicht irgendwer: Dietrich Kuhlbrodt ist sein Name, und der lebte so viele unziemliche Leben gleichzeitig, dass man kaum mitzählen kann, und das auch noch mit bravouröser Ausdauer: 92 wurde er im letzten Herbst, und wenn er in Arne Körners schönem Porträtfilm lebenslustig, listig und wendig erzählt, wie er im Fitnessstudio an den Seilen zieht, Treppen erklimmt und im Garten gärtnert, ist man sicher: Da kommt noch ein ganzer Strauß Geburtstage hinterher.

Die vielen Leben des Dietrich Kuhlbrodt also: Hitlerjugendlicher, Jura-Student in Frankreich, Mitbegründer der hiesigen Cinephilie, Filmkritiker, Autor für Konkret und andere, Schauspieler für Schlingensief und Lars von Trier, umtriebig auf diversen Bühnen, Ehemann der Künstlerin Brigitte Kausch, mit der er wohl – den vielen, wunderbar farbigen Super8-Aufnahmen in diesem Film zufolge – ein wildes Bohème-Leben führte. Aber auch: Dietrich Kuhlbrodt, als Staatsanwalt hoch-honoriger Würdenträger dieses Landes, verdienstreich als „Nazijäger“ in Ludwigsburg, als man in der wirtschaftswunderbaren Bundesrepublik diese ganze lästige Sache doch bitte schön langsam unter den Teppich kehren wollte. „Wir kriegen euch auch noch“, gellte so mancher Alt- und Immer-Noch-Nazi von der Straße aus Richtung Ludwigsburger Arbeitsbüro, erzählt Kuhlbrodt – und stellt das Gejohle geradezu gruselig inbrünstig nach, als wäre ihm das Gekeife damals tief in Mark und Bein gegangen, von wo aus es jetzt wieder nach außen dringt.

Geradezu gruselig inbrünstig – so habe ich Dietrich Kuhlbrodt auch für mich kennengelernt, in den schlimmen Neunzigern, als er in Schlingensiefs Wende-Splattersause „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (1990) mit besagtem Arbeitsutensil Jagd auf Ostdeutsche machte (Tagline: „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“) und als er sich im Rechtsradikalen-Report „Terror 2000 – Intensivstation Deutschland“ (1992) als Nazi von altem Schrot und Korn in Szene setzte („Adolf Hitler war ein Nazi. Mein Vater war ein Nazi. Ich – bin ein Nazi“). Ich war damals pubertär, Punk und entsetzt von einem Deutschland, in dem jeden Tag ein Flüchtlingsheim brannte. Kuhlbrodts gellende Intonation imponierte mir, blieb hängen – hier kam etwas zum Ausdruck, etwas drückte sich aus und heraus. Wie die Kotze, die Dietrich Kuhlbrodt im Schlingensief-Film „Menu Total“ aus dem Munde des fleischigen Alfred Edel herauspuhlte.

„Ich hätte das alles gar nicht machen dürfen“, juxt Kuhlbrodt mit breitem Grinsen heute in seiner schön unordentlichen, aber nicht verwahrlosten Hamburger Villa. Das Amt des Staatsanwalts muss der Würdenträger insbesondere auch durch seinen Lebenswandel im Privaten ehren – oder so. Kettensägen in Industriebrachen schwingen, in Wurst und Kunstblut waten, Nazis spielen, auf der Volksbühne Berlins freidrehen – oder Menschen, die von der Abschiebung bedroht sind, im eigenen Haus Unterschlupf gewähren. Das ziemt sich alles nicht für einen Staatsanwalt. Schöne Episode auch: Wie Kuhlbrodt in einer Zeit, als der Muff unter den Talaren noch lange nicht gelüftet war, aufs Konzert der Rolling Stones ging, seinen Kollegen am nächsten Tag davon erzählte – und die mit großen Augen nachfragten, dies sei doch sicher nur deshalb geschehen, um zu beobachten, ob es zu Straftaten kommt. Näää, blökt der rüstige Rentner (auch wie er manchmal: „Ääääy“ ruft – ein Fest!): Er war dort, weil er die Musik gut findet. Prompt meldete sich der Vorgesetzte: Beim nächsten Mal sagen Sie mir bei solchen Vorhaben bitte im Vorfeld Bescheid.

Das alles und noch viel mehr plaudert sich in „Nonkonform“ so nebenbei weg. Lapidar, jovial, jung – ohne Pathos und Roten Teppich. Dieser Film hätte eine schlimm ehrwürdige Hommage werden können – „Unser Dietrich!“ -, zum Glück ist er das nicht geworden, sondern adäquat locker, verspielt, nah dran. Hohles Pathos bitte nicht bei Kuhlbrodt, dafür ist er viel zu sehr Spielkind geblieben, gerade in der alten Bundesrepublik, die insbesondere in ihren jungen Jahren vor allem das Lebensmodell „Frühvergreisung“ vorsah. Am Ende von „Nonkonform“ sehen wir Kuhlbrodt im Techno-Club, inmitten junger Leute. Er ist ja selber so ein junger Leut.

Dazu gibt es flankierend Archivmaterial. Meist illustrierend, in neuen Kontext gesetzt. Obendrein – eine Schau! – Auszüge aus altem TV-Material, in dem der nicht mehr ganz junge, aber eben noch nicht alte Kuhlbrodt seine Arbeit als Nazijäger von Staats wegen reflektiert. Das trockene Kunstpausen-Deutsch des Genres „ernster TV-Beitrag der Öffentlich-Rechtlichen“, wie es damals noch üblich war, hat er perfekt drauf. So ganz nebenbei ist „Nonkonform“ auch ein Film über Sprache, Stimme und den Körper, aus dem sie kommt. Wie sich das alles ändert, was durch Stimme und Sprache hindurch spricht, welche Rollen wir dadurch einnehmen – und wie sich das Eigene, das Eigensinnige darin bewahren lässt, wie man sich davon emanzipiert. Und vielleicht auch, wie man ein richtiges Leben im Falschen wenigstens irgendwie leben kann. Morgens für Schlingensief die Kettensäge schwingen, am Nachmittag im Gericht Prozesse verhandeln. Was für ein Leben. Was für ein Film.

Diese Kritik erschien zuerst am 05.02.2025 in: perlentaucher.de. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Nonkonform
Deutschland 2023 - 117 min.
Regie: Arne Körner - Drehbuch: Arne Körner - Produktion: Matthias Greving - Bildgestaltung: Max Sänger, Elias Müller, Arne Körner - Montage: Andrea Schumacher - Musik: Helge Schneider - Verleih: missingFILMs - Besetzung: -
Kinostart (D): 06.02.2025

IMDB-Link: https://www.imdb.com/de/title/tt33852256/
Foto: © missingFILMs