Misericordia

(FR 2024; Regie: Alain Guiraudie)

Die Macht der Begierde

Unter strahlend blauem Himmel geht die Fahrt, aus subjektiver Perspektive aufgenommen, über zunächst hügeliges, dann zunehmend gebirgigeres Land. Auf schmalen, kurvigen Straßen erreicht der junge Jerémie (Félix Kysyl), der aus Toulouse anreist, das südfranzösische Dorf Saint-Martial in den Cevennen. Hier besucht der Rückkehrer die Beerdigung des verstorbenen Bäckermeister Jean-Pierre, bei dem Jérémie einst in die Lehre ging und in den er heimlich verliebt war. Er habe „die Berufung, Brot zu schenken“ gehabt, sagt der Pfarrer (Jacques Develay) bei seiner Ansprache vor dem offenen Grab. Der Tod sei aus christlicher Sicht als „Übergang ins Reich der Liebe und des Lichts“ zu verstehen. Jérémie, über den man nur erfährt, dass er seit kurzem arbeitslos ist und sich gerade von seiner Freundin trennt, ist sichtlich gerührt. Die Witwe Martine (Catherine Frot), die den jungen Mann offensichtlich mag, lädt ihn ein, noch ein paar Tage zu bleiben und sich zu überlegen, ob er eventuell die Bäckerei übernehmen wolle. Auf diese Avancen reagiert ihr verheirateter Sohn Vincet (Jean-Baptiste Durand) mit Eifersucht.

Die Gefühle des leicht erregbaren, latent aggressiven Heißsporns gehen aber in verschiedene Richtungen. Denn entgegen dem Anschein und trotz seiner Abwehr richtet sich sein Begehren auch auf Jérémie. Dieser wiederum sucht die Nähe zu dem alleinstehenden, außerhalb des Dorfes wohnenden Bauer Walter (David Ayala). Beobachtet wird der Beziehungsreigen wiederum von Pfarrer Grisolles. Der ebenso kluge wie aufgeschlossenen Geistliche, der als heimlicher Zeuge permanent zur Stelle ist, hegt seinerseits eine versteckte Liebe zu dem mysteriösen Ankömmling, der wie der Gast in Pasolinis „Teorema“ die Emotionen und sexuellen Energien der affizierten Figuren in einen Taumel zwischen Scham und Offenbarung versetzt. Bei wiederholten Spaziergängen im Wald, wo Jérémie erfolglos nach Pilzen sucht, kommt es schließlich zum gewalttätigen Konflikt, der einen kriminalistischen Plot nach sich zieht.

Mit der Aufklärungsarbeit der Polizei und ihrer Suche nach der Wahrheit inszeniert Alain Guiraudie in seinem neuen Film „Misericordia“ vordergründig zwar eine Detektivgeschichte. In zweiter Hinsicht geht es dem renommierten französischen Regisseur aber immer deutlicher um ein vielfältiges, auf der Figurenebene eng verzahntes homosexuelles Begehren, um unterdrückte Lust und überraschend offene Bekenntnisse. Die fast theaterhafte Anordnung der Protagonisten bewirkt, dass sich diese fortwährend begegnen und wechselseitig beobachten; und zwar bevorzugt nachts und im Wald, was dem Film eine merkwürdig somnambule, zeitlich entrückte Stimmung verleiht. Als Subjekt des Begehrens wird Jérémie gleich mehrfach zum Stellvertreter, was sich auch in Äußerlichkeiten symbolhaft spiegelt, etwa wenn er Vincents Zimmer bezieht, in dessen Bett schläft oder die Kleider des Verstorbenen trägt. Mit einer Mischung aus tragischen und komischen Elementen hinterfragt Guiraudie in der Auseinandersetzung mit seiner Hauptfigur aber auch die moralische Ordnung und den Schuldbegriff. Dabei trägt er mitunter dick auf, lässt hinter dem notwendig verborgenen und Unausgesprochenen aber auch auch provozierend Abgründiges aufblitzen.

Misericordia
Frankreich 2024 - 103 min.
Regie: Alain Guiraudie - Drehbuch: Alain Guiraudie - Produktion: Charles Gillibert - Bildgestaltung: Claire Mathon - Montage: Jean-Christoph Hym - Musik: Marc Verdaguer - Verleih: Salzgeber - Besetzung: Félix Kysyl, Catherine Frot, Jean-Baptiste Durand, Jacques Develay, David Ayala, Sergie Richard
Kinostart (D): 06.03.2025

IMDB-Link: https://www.imdb.com/de/title/tt32085997/
Foto: © Salzgeber