Der titelgebende Sozialbau mit seinem schier endlos langen Flur steht in der israelischen Stadt Be’er Sheva am Rande der Wüste Negev. Entlang einer fensterlosen Front verbindet der schmale Gang innen und außen, Privates und Öffentliches und wird so zu einem Ort des Übergangs. In einer sehr langen, etwa ein Drittel des Films einnehmenden Sequenzeinstellung treten Figuren und ganze Gruppen wie auf einer Theaterbühne auf und ab, nur um später wiederzukehren. In ihrer kulturellen, sozialen und sprachlichen Vielfalt repräsentieren sie die israelische Gesellschaft. Alle sind in Bewegung, niemand steht still. Mehrere Architekten streiten sich über ihre Pläne, ein Kriegsveteran verliert sich in Erinnerungen, orthodoxe Juden klagen auf Jiddisch über „seltsame Zeiten“, in einer kleinen Café-Nische treffen sich ukrainische Flüchtlinge, andernorts findet Sprachunterricht statt und in einer alten Buchhandlung finden die Traumata von KZ-Überlebenden zu einer Sprache. Einmal erklingt die Melodie von „Amazing Grace“, gespielt von einer kleinen Kapelle.
Abgelöst, unterbrochen und zusammengehalten werden diese exemplarischen Auftritte von einer Französisch sprechenden Frau, einer fremden, vielleicht unsichtbaren Beobachterin (Irène Jacob), die sich an die Zuschauer wendet, indem sie die Verhältnisse, Situationen und ihr eigenes Empfinden kommentiert. Mit tänzelndem Schritt zeigt sie sich von den menschlichen Schicksalen bewegt; zugleich erfährt sie sich selbst zunehmend in eine brutale Realität und in eine daraus resultierende Veränderung verwickelt. Gegen ihren Willen und ohne erkennbaren Zweck scheinen sich die Menschen in Nashörner zu verwandeln, was hier allerdings nur symbolisch angedeutet wird. Die sogenannte Normalität fängt an, sich dadurch aufzulösen. Schon beginnt auch der Körper der Protagonistin zu jucken. Ihr anfangs ungläubiges Erstaunen wird abgelöst von der Angst, eine andere zu werden. Doch sie wehrt sich dagegen, schlägt förmlich aus und schreit dagegen an.
Der renommierte israelische Filmemacher Amos Gitai, der sich für seinen neuen Film „Shikun“ von Eugène Ionescos absurdem, gegen totalitäre Regime gerichtetem Drama „Die Nashörner“ inspirieren ließ, verdichtet Raum und Zeit, um in einem Mikrokosmos die israelische Gesellschaft zu spiegeln. Dezidiert wendet er sich gegen einen politischen Anpassungsdruck der von Machthabern durch Angst erzeugt wird und der den individuellen Protest kritischer Geister zunehmend unterdrückt und zum Verschwinden bringt. Dagegen formuliert er in seinem theaterhaften und zugleich kreisförmigen Film mit den Worten des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch die Pflicht zur Verantwortung gegenüber den Mitmenschen: „Denke an die anderen!“, heißt es wiederholt. Ionesco selbst hat einmal gesagt: „Das Ich ist letztlich nicht von den anderen getrennt. Es begegnet den anderen in sich selbst.“