Das Seitwärtstravelling entlang einer nächtlichen Großstadtstraße zeigt dicht gedrängte Menschen, ihr geschäftiges Treiben auf Märkten und in Straßenrestaurants als permanentes Durcheinander von Bewegungen. Die Perspektive darauf kommt vielleicht aus einem der vielen vorbeifahrenden Busse, die im Vorbeiziehen die Bewegungen verdoppeln und die allgemeine Geräuschkulisse verstärken. In diese mischen sich im Wechsel anonyme Stimmen aus dem Off, die von ihrem beschwerlichen Leben und vom stetigen Gefühl des Fremdseins berichten. Die indische Metropole Mumbai sei die „Stadt der Träume“, heißt es einmal, doch für viele werde sie zu einer „Stadt der Illusionen“. Mit einer stimmungsvollen Atmosphäre aus Dunkelheit, Regen und Bewegung evoziert Payal Kapadias Film „All We Imagine as Light“ eine fremde, nahezu undurchdringliche Welt. Mit dokumentarischem Blick etabliert sie eine vielstimmige, parataktische Erzählung, deren poetischer Realismus vom Allgemeinen zum Besonderen und von der Peripherie ins Zentrum führt.
Der nicht minder vielstimmige und chaotische Arbeitsalltag auf der gynäkologischen Station eines Krankenhauses bestimmt das Leben der Krankenschwester Prabha (Kani Kusruti). Still, geduldig, sorgsam und bestimmt widmet sie sich ihren Aufgaben und ist bei Interessenkonflikten um Ausgleich bemüht. Dabei hat sie selbst Sorgen, seit ihr Mann zum Arbeiten nach Deutschland ausgewandert ist, sich aber nicht mehr meldet. Währenddessen wird sie von einem Arzt, der sich fremd und einsam fühlt, mit Gedichten und Süßigkeiten zärtlich umworben, hält aus moralischen Gründen jedoch Abstand. Mit anfänglichem Argwohn blickt sie auch auf ihre jüngere Kollegin und Mitbewohnerin Anu (Divya Prabha), die eine heimliche Liebesbeziehung mit einem Moslem führt, während ihre Eltern für sie eine möglichst lukrative Ehe arrangieren wollen. Und dann kümmert sich Prabha noch um ihre ältere Kollegin Parvaty (Chhaya Kadam), die in der Krankenhausküche arbeitet und von Bauspekulanten aus ihrer Wohnung gedrängt wird, weshalb sie zurück aufs Land ziehen möchte.
„Dem Schicksal entgeht man nicht“, sagt Parvaty einmal nachdenklich. Kulturelle und soziale Gegensätze, moralische und sprachliche Unterschiede treffen in Payal Kapadias beeindruckendem Film unablässig aufeinander. Dabei überwindet er im Fortgang der Erzählung zunehmend die Grenzen zwischen Tradition und Moderne, Realität und Imagination. Die Bewegung der drei Freundinnen, die sich gegenseitig unterstützen und helfen, führt schließlich aus der Stadt aufs Land und damit ins Offene. Eine kleine Behausung am Meer wird für ihren gemeinsamen Aufenthalt zum Fluchtort und Refugium. In dieser „anderen Welt“ jenseits patriarchaler Strukturen und ausbeuterischer Hierarchien erwächst, beflügelt von Phantasie und weiblicher Solidarität, die Keimzelle für eine utopische Gemeinschaft. Aus der Intimität von Körper und Geist entsteht eine Weite, die das Fremde überwindet. Und für lange Augenblicke, die getragen werden vom (musikalischen) Flow stiller Melancholie, durchbricht tatsächlich das Licht die Dunkelheit.