Der angehende Filmregisseur Edgar Reitz ist 35 Jahre alt, als er 1968 für einige Wochen Lehrer am humanistischen Luisengymnasium in München wird. Assistiert von den Kameramännern Thomas Mauch und Dedo Weigert, vermittelt er in einem einmaligen Experiment den 13- bis 14-jährigen Schülerinnen einer Mädchenklasse die Grundlagen des Films. Das Klassenzimmer soll zu einem Filmstudio werden, wo sich theoretisches und praktisches Wissen wechselseitig ergänzen und befruchten. Inspiriert von seinen Erfahrungen als Dozent am Institut für Filmgestaltung in Ulm sowie von seinen eigenen filmischen Versuchen als Protagonist einer neuen, aufstrebenden Filmbewegung, geht es dem späteren Schöpfer der monumentalen „Heimat“-Trilogie vor allem darum, eine gravierende Lücke im Bildungsplan der Schulen zu schließen. Ein Zitat des ungarischen Filmtheoretikers Béla Balázs, das dieser bereits in den 1920er Jahren formuliert hat, leitet dabei Reitz‘ medienpolitischen Vorstoß: „Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis.“
Dieser zentrale Satz, der leider immer noch gültig ist, steht als Motto vor dem damals entstandenen Film „Filmstunde“ (1968), der zum einen den sehr aufschlussreichen und kreativen Unterricht dokumentiert und zum anderen die originellen, daraus hervorgegangenen Arbeiten der Schülerinnen präsentiert. Ausgestattet mit kleinen, handlichen Super-8-Kameras und einem zuvor entwickelten Drehplan, konnten diese ihrer kreativen Phantasie freien Lauf lassen. Dabei stand für einmal nicht der Leistungsgedanke im Vordergrund, sondern das persönliche Interesse und die Freude am spielerischen Tun und am gemeinsamen Arbeiten, das außerdem den Zusammenhalt der Gruppe stärkte. Vorausgegangen waren der filmischen Praxis Überlegungen zu den Möglichkeiten filmischen Erzählens, verstanden als Sprache des Films, aber auch Unterrichtsgespräche über den Begriff der Einstellung als kleinster Erzähleinheit, die Wirkungen des Schwenks und der bewegten Aufnahme, über Aspekte der Montage und die Theorie des Autorenfilms. Als beispielhaftes Anschauungsmaterial sahen die Schülerinnen Louis Malles „Zazie“ (1960) und Firtz Lang „M“ (1931). Edgar Reitz‘ Kampf gegen „filmisches Analphabetentum“ wird von der These geleitet, dass sich jeder filmisch ausdrücken könne.
In seinem neuen, zusammen mit Jörg Adolph realisierten Film „Filmstunde_23“ begegnet der mittlerweile 90-jährige Regisseur 55 Jahre später nun seinen ehemaligen Schülerinnen zum gemeinsamen Austausch von Erinnerungen. Bei der Betrachtung des historischen Materials sowie der persönlichen Kommentaren und Gesprächen dazu, die von Reitz und Adolph als stetiger Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart inszeniert werden, wird auf berührende Weise deutlich, wie sehr diese einmalige schulische Erfahrung mit dem Medium Film das Leben und Denken der mittlerweile ebenfalls betagten Frauen beeinflusst und geprägt hat; und zwar nicht nur im Hinblick auf ihr Filmverständnis, sondern auch mit Bezug auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Denn der Filmunterricht sollte den Mädchen auch einen „Zugang zu sich selbst“ eröffnen. Das Unverwechselbare einer Person jenseits der vergehenden Zeit wird deshalb im bewegenden Erinnerungsaustausch ebenso zum Thema wie die Aufbewahrung von Lebenszeit im Medium und der Kunstform Film. Doch trotz dieser guten Gründe fand Edgar Reitz‘ so wichtige filmpädagogische Pionierarbeit leider keinen Niederschlag in den Bildungsplänen hierzulande.