„Am Montag erkennt Ábel, dass er verliebt ist.“ Und: „Am Montag denkt György an Dienstag“. So lauten die ersten Kapitelüberschriften von Gabór Reisz multiperspektivischem Ensemblefilm „Eine Erklärung für alles“. Nach jeder dieser prosaischen, meistens mit einem Namen und einem Wochentag verknüpften Ankündigungen ändert der in einem dokumentarischen Handkamerastil gedrehte Film seine Blickrichtung. Daraus entsteht zum einen eine verzweigte sozialrealistische Erzählung; zum anderen wird die ausdrückliche, forciert ins Bild gesetzte Nähe zu den Figuren und ihren Ansichten durch den fortgesetzten Perspektivwechsel immer wieder relativiert, in Frage gestellt oder korrigiert. So hat in der tief gespaltenen ungarischen Gesellschaft, die Gabór Reisz hier mit vielen Widersprüchen beschreibt und thematisiert, jede vermeintliche Wahrheit ihren eigenen Grund. Denn die Lehren aus der Geschichte werden in der Gegenwart ganz unterschiedlich verstanden. Und so laden auch die Figuren zu keiner reibungsfreien Identifikation ein. In ihrem Handeln vermischen sich vielmehr fortwährend private Interessen mit politischen Überzeugungen und gesellschaftlichen Bedingungen.
So findet der 18-jährige Ábel (Gáspár Adonyi-Walsh) etwa einen politischen Vorwand, um sich für seinen Liebeskummer an seinem Geschichtslehrer zu rächen. Der sensible, aus einer gutbürgerlichen, patriotischen Familie stammende Abiturient ist nämlich ziemlich heftig in seine Mitschülerin Janka (Lilla Kizlinger) verliebt, die jedoch den 19 Jahre älteren Lehrer und Familienvater Jakab (András Rusznák) anhimmelt. Zwar ist der linksliberale Freigeist, der sich trotz mangelnder Kooperation eines Zeitzeugen gerade mit dem ungarischen Volksaufstand von 1956 beschäftigt, in seinen familiären Beziehungen wiederholt unaufmerksam und selbstbezogen; andererseits möchte er Berufliches und Privates nicht vermischen. Doch gerade das tut Ábel, wenn er für sein Scheitern in der mündlichen Geschichtsprüfung die angeblichen Vorurteile Jakabs gegenüber ihm und seinem dafür empfänglichen Vater György (István Znamenák) ins Feld führt. Die Kokarde mit dem Nationalwappen an Ábels Jackett, angeheftet anlässlich des Jahrestags, an dem der Revolutionsbeginn vom 15. März 1848 gefeiert wird, habe den Pädagogen provoziert.
Dieses Symbol nationaler Unabhängigkeit und Freiheit wird jedoch von den gegenwärtig regierenden Rechtspopulisten zunehmend nationalistisch umgedeutet. Als die junge, ehrgeizige Journalistin Erika (Rebeka Hatházi) einen mäßig recherchierten, tendenziösen Artikel über den Vorfall mit der Anstecknadel in der fiktiven patriotischen Zeitung „Ungarische Tage“ veröffentlicht, wird daraus ein Politikum und öffentlicher Skandal. Dabei gerät auch die Schulleitung unter Druck. Man spürt den Riss, der durch die gespaltene Gesellschaft geht und bemerkt Abhängigkeiten, in denen sich politische Machtstrukturen spiegeln. Dass diese Verhältnisse zunehmend leider auch in anderen europäischen Ländern um sich greifen, verleiht Reisz‘ ebenso sehenswertem wie diskussionswürdigem Film seine Allgemeingültigkeit. Auf seinem Höhepunkt treffen der konservative György und der fortschrittlich denkende Jakab in einem heftigen und zugleich unversöhnlichen Streitgespräch aufeinander. Die üblen Beschimpfungen hallen noch nach, wenn sich der überforderte Ábel schließlich verweigert und sich im jugendlichen Überschwang mit seinen Freunden ins Freie und Offene aufmacht.