City of Darkness

(HK 2024; Regie: Soi Cheang)

Götterdämmerung im Hongkong-Kino

Viele Liebesbriefe zirkulieren im zeitgenössischen Kino. Seit einigen Jahren inszenieren Regisseure die Zeiten und Räume ihrer Kindheiten, tauchen sie in wehmütiges Licht und nostalgisches Filmkorn. Damit berühren sie zumeist gleich zwei Vergangenheiten: eine urbane und eine filmische – oft kreuzen sie sich. Filme wie „Armageddon Time“ (2022) und „Licorice Pizza“ (2021) leisten das für die Städte New York und Los Angeles, aber auch für das US-amerikanische Kino der 1970er und frühen 80er Jahre. Gedreht sind sie von erklärten Kinokindern, die zwischen Kameraauge und den eigenen, menschlichen, wenig Unterscheidung kennen.

Soi Cheangs „City of Darkness“ ist ein Liebesbrief an Hongkong, und auch hier trifft die Zuneigung zur urbanen Gestalt auf die filmische Geschichte der Stadt. Der in Macau geborene Regisseur kam mit elf Jahren dorthin, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als auch die Handlung einsetzt. Statt einer Gesamtschau der Stadt gilt seine Leidenschaft jedoch einer architektonischen Anomalie, die sie hervorgebracht hat: die Kowloon Walled City, eine organisch gewachsene Verdichtung aus Häusern und Gängen und für die Jahre, die sie stand (bis 1993), der am dichtesten besiedelte Punkt der Welt. In Hongkong kannte jeder dieses gouvernementale Niemandsland, das nicht richtig zur britischen Kolonie, aber auch nicht zu China gehörte und sich deshalb selbst überlassen war. Auch wer Hongkong in diesen Jahrzehnten besuchte, hat den bedrohlichen Komplex vermutlich gesehen: Flugzeuge, die den örtlichen Kai Tak Airport ansteuerten, passierten so gefährlich nah an den vertikalen Enden der Stadt, dass sich Passagiere und Bewohner der City beim Anflug fast in die Augen blicken konnten, so scheint es auf den vielen Fotografien, die diese Flugschneise dokumentieren.

In diese Stadt in der Stadt gerät der Geflüchtete Chan Lok-kwan (Raymond Lam) kurz nach seiner Ankunft. Einen Sack gestohlenes Kokain möchte er dort zu Geld machen, um sich einen falschen Pass zu kaufen. Er wird unter die Fittiche von Tornado (Louis Koo) genommen, der die Walled City kontrolliert. Durch seine Stellung in der kriminellen Unterwelt wagen sich die konkurrierenden Gangs nicht hinein, allerdings bahnt sich ein Machtkampf um die chaotischen Besitzrechte der tausenden Wohnparzellen an, die Enklave wird zum Knotenpunkt eines drohenden Triadenkrieges.

Filme über das organisierte Verbrechen sind eine Paradedisziplin des Hongkong-Kinos, vor allem des durch Johnnie To gegründeten Milkyway Image Studios, in dem auch Soi Cheang sich seine Sporen verdiente. Interessanterweise berührt „City of Darkness“ den Stil des Triadenfilms jedoch nur randständig. Obwohl im Gangstermilieu angesiedelt, inszeniert Cheang seine Geschichte wie ein Heldenepos des chinesischen Wuxia-Filmes: Tornado und seine Gang, aber auch die verfeindeten Triaden, selbst der schwerfällige Boss Mr. Big (Sammo Hung), erzeugen unmögliche Energien in ihren Körpern, können Kämpfen wie Götter, springen aus dem Stand zwischen den Wellblechbalkonen der Fassaden mühelos die Etagen hinauf und befördern sich gegenseitig mit wenigen Handgriffen durch Wände und Decken. Schnell nehmen wir in Kauf, dass eine der Figuren ohne Erklärung praktisch unbesiegbar wird, rein um der Kreativität ihrer Bezwingung willen, denn „City of Darkness“ ist Martial-Arts alter Güte, wenig an Realismus oder überbordender Härte interessiert, stattdessen an der Dynamik der Bewegung und der kreativen Nutzung des filmischen Raumes. So werden die schmalen Gänge der Walled City, die maroden Wohnungen, Hinterhofküchen und die miteinander verbundenen Dächer trotz aller Beengtheit von der mobilen Kamera durchflogen; sie stellt sich auf den Kopf, schnellt durch die Flure, passiert die Begrenzungen der Räume, als suche sie sich den Kräften anzupassen, die von den Bewohnern und Eindringlingen entfesselt werden.

Bemerkenswert dabei ist, dass Cheang die Walled City nie zur exotischen Bühne für die komplizierten Gefechte degradiert, sondern sich emphatisch für diesen singulären Ort interessiert – gerade in der ersten Hälfte des Filmes ist sein Blick auffallend liebevoll, hält sich in und mit Details der kleinteiligen Sets auf und stattet die Gassen und ruinösen Räume mit zwischenmenschlichen Vignetten aus. Filme wie „Bloodsport“ (1988) und „Long Arm of the Law“ (1984), die beide für kurze Szenen in der echten Mauerstadt gedreht wurden, zeigen sie als postindustrielle Vorhölle. Ganz ähnlich arbeitete Cheang selbst in seinem Hardcore-Noir „Limbo“ (2021) und gestaltete ganz Hongkong in einer der finstersten Mise-en-Scènes der letzten Jahre ausschließlich in Graustufen aus Beton und Stahl, Rohren und Kabeln. In „City of Darkness“ strahlt die Walled City trotz ihrer Missstände eine Wärme aus, die in der Erinnerungskultur der sich dort gebildeten Community schon lange vorherrscht, filmisch bislang jedoch nie artikuliert wurde. So arbeitet dieser Film inszenatorisch auch gegen seinen deutschen Verleihtitel, der die Dunkelheit der Stadt betont, während Cheang sehr bedacht darin ist, jene Winkel in ihr zu finden, die leuchten.

Der internationale Titel, „Twilight of the Warriors“, trifft den Ton besser: Cheangs Liebesbrief gilt nicht nur seiner Heimat und ihrer komplizierten urbanen und sozialen Geschichte, sondern auch einem spezifischen Kino, das diese Stadt hervorgebracht und geprägt hat. Ein Kino, das in den 1980er Jahren die Welt eroberte und Hongkong zu einem Ort machte, der wie kaum ein anderer in Asien geradezu kinematographisiert, selbst filmischer Mythos geworden ist. Das war ein unverfrorenes und überhöhtes Kino der Krieger und Helden (auch wenn häufig ein Anti-Präfix vor sie gesetzt wurde), nicht umsonst verlieh man einem der populärsten Genres aus diesem Filmland den Titel des heroischen Blutvergießens. Zugleich ist es ein Kino, das in dieser Größenordnung fast verschwunden ist. Wenn die Figuren immer wieder davon sprechen, dass die Walled City irgendwann fort sein wird, abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht, dann zieht der Film zweifach Bilanz, erinnert gleich zwei verlorene Ausnahmeerscheinungen: eine der Stadt, eine des Kinos. Das Zwielicht der Kämpfer, auf das der Titel weist, ist programmatisch zu verstehen. Ohne Rücksicht auf Verluste lässt Soi Cheang zugleich das Hongkong dieser Zeit und seine singuläre Art und Weise, Kino herzustellen, noch einmal auferstehen. Als letztes Aufflackern vor dem Verdämmern.

City of Darkness
(Jiu Lóng Chéng Zhài·Wéi Chéng / AT: Twilight of the Warriors: Walled In)
Hongkong 2024 - 126 min.
Regie: Soi Cheang - Drehbuch: Kin YeeAu, Tai-lee Chan, Li Jun, Kwan-Sin Shum - Produktion: John Chong, Peter Lam, Wilson Yip - Bildgestaltung: Siu-keung Cheng - Montage: Ka-Fai Cheung - Musik: Kenji Kawai - Verleih: Plaion Pictures - Besetzung: Louis Koo, Sammo Kam-Bo Hung, Richie Jen, Raymond Lam, Aaron Kwok, Philip Ng
Kinostart (D): 28.11.2024

DVD-Starttermin (D): 27.02.2025

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt20316748/
Foto: © Plaion Pictures