„Ich bin an Menschen interessiert, die am Rande der Gesellschaft stehen und ihre Mitte gefunden haben“, schreibt Jürgen Baldiga in sein Tagebuch, das ihm auch zur Selbstvergewisserung dient. Der 1959 in Essen geborene und in einer Arbeiterfamilie aufgewachsene Fotograf gilt mit seinen realistischen Schwarzweißfotos als Chronist der Berliner Subkultur der 1980er Jahre. Er fühle sich wohl unter Strichern, Transvestiten, Geisteskranken und Alkoholikern. Deren schrille Sinnlichkeit repräsentiere das eigentliche Leben. Radikal und schonungslos dokumentiert er das Milieu der Homosexuellen und richtet dabei die Kamera auch öfters auf sich selbst. In diesen freizügigen und intimen Selbstportraits trifft der Betrachter auf einen herausfordernden, teils aggressiven Blick. Er habe durch sein Erscheinungsbild sowie durch seine Kunst unbedingt auffallen wollen, sagen Weggefährten über Baldigas „selbstbewussten Egoismus“. Nach seiner lebensverändernden Entscheidung, Kunst zu machen, sei er kompromisslos seinem Weg gefolgt. „Meine Kunst, mein Leben, meine Gefühle“, lautete sein Credo.
Markus Steins materialreicher Film „Baldiga – Entsichertes Herz“, der hauptsächlich Fotos und Tagebuchnotizen des schwulen Künstlers eng miteinander verfugt und daraus in Teilen auch eine biographische Erzählung destilliert, beginnt folgerichtig mit einer Inszenierung. Ein Foto wird nachgestellt, auf dem Baldiga an einem Tisch über seinem Tagebuch sitzt. Ein Totenkopf mit Krone, ein Kreuz sowie eine brennende Kerze ergänzen das Arrangement, während aus dem Off der Tagebuchschreiber von einem Traum erzählt, in dem er das Grab des Malers Caravaggio geöffnet habe. Diese fotografische Installation widerspricht dem Eindruck, dass Baldigas Fotos vor allem spontan und unmittelbar entstanden seien. Auch wenn sich in seinen artifizielleren Arbeiten, in seinem Ringen um sexuelle Freiheit und unbedingten künstlerischen Ausdruck Parallelen zu dem New Yorker Fotografen Robert Mapplethorpe auftun, bleibt diese mögliche Verbindung ausgespart. Stattdessen konzentriert sich der Film in sieben Kapiteln und lose entlang biographischer Linien ganz auf das Werk Baldigas und auf Erinnerungen von Zeitzeugen.
Als Jürgen Baldiga im November 1984 positiv auf das HI-Virus getestet wird, wächst nicht nur sein Lebenshunger, sondern gewinnt auch sein Kunststreben an Dringlichkeit. Er wolle mit seinen Fotos die Zeit anhalten und das Leben einfangen. Seine ungezügelte Lust nach freier Sexualität wird allerdings schmerzlich gedämpft. Über die „paranoiden Krankheitsregeln“ notiert er in sein Tagebuch: „Mein Sperma ist Gift geworden, mein Arsch eine Fallgrube des Todes.“ Und er fürchtet die Verluste: „No sex, no drugs, no love.“ Trotzdem will sich Baldiga nicht verstecken, sondern am Leben teilnehmen. Gegen die Angst in der Szene macht er Aids sichtbar, erlebt eine letzte große Liebe mit Ulf Reimer und unternimmt mit ihm sogar eine Reise in seine Sehnsuchtsstadt New York.
Der Ausbruch der schrecklichen Krankheit, die aus vielen Krankheiten besteht, wie ein Arzt sagt, vermittelt nicht nur brutales Leiden, sondern gibt auch berührenden Einblick in die therapeutischen Dilemmata und die emotionale Hilflosigkeit von Ärzten und Pflegenden zu einer Zeit, als die Krankheit noch tödlich verlief. Doch trotz seiner Traurigkeit über das Unausweichliche beharrt Jürgen Baldiga, der im Dezember 1993 seinem Leiden ein Ende setzt, auf seinem einmal eingeschlagenen Weg: „Ich bin das, was ich sein wollte.“