Ist das Kino ein Medium, das zum Träumen einlädt, gar zur Wirklichkeits- und Weltflucht? Betrachtet man das Titelbild der diesjährigen IFFMH-Programmbroschüre, auf dem eine von einer KI generierte junge Frau mit geschlossenen Augen ganz in sich versunken scheint, könnte man das meinen. Im Gegensatz dazu steht die kämpferische Ausrichtung, die Festivalleiter Sascha Keilholz in seinem Grußwort für das Programm des 73. Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg reklamiert, wenn er über die ausgewählten Filme schreibt, dass sie „sich selbst als Form des Widerstands begreifen, des zivilen Ungehorsams und Aufbegehrens.“ Diesem hehren Anspruch entsprechend, beschäftigen sich viele Filme mit politischen Missständen, mit sozialer Ausgrenzung sowie mit Erfahrungen von Flucht und Migration. Besonders deutlich und brisant werden diese aktuellen Themen beim Blick auf die Schicksale von Frauen verhandelt, die im Kampf gegen patriarchale Bevormundung ihre Freiheit einfordern.
So gibt es in dem mit 16 Filmen bestückten internationalen Wettbewerb „On the rise“, der traditionell Newcomer vorstellt, gleich mehrere Beiträge, in denen Frauen gegen Gewalt, Unterdrückung und die Ungerechtigkeit patriarchaler Machtstrukturen aufbegehren. Neben dem im brasilianischen Amazonasgebiet angesiedelten Film „Manas und dem feministischen Thriller „Santosh“ aus Indien, gilt dies besonders für den aus der Dominikanischen Republik stammenden Film „Sugar Island“. In ihrem stilistisch vielfältigen, zwischen fiktionalen und dokumentarischen Elementen oszillierenden Spielfilmdebüt erzählt Johanné Gómez Terrero von einer jungen Frau, die mit ihrer Familie auf einer Zuckerrohrplantage lebt und ungewollt schwanger wird. Ihr Kampf für Selbstbestimmung und gegen Ungerechtigkeit verbindet sich schließlich auch mit der politischen Geschichte der kolonisierten Karibikinsel.
In den insgesamt 71 Langfilmen, die vom 7. bis zum 17. November in den beteiligten Kinos der beiden Festivalstädte Mannheim und Heidelberg präsentiert werden, stehen freilich auch oft Männer, ihr Selbstverständnis, aber auch ihre Krisen und inneren Wunden im Mittelpunkt. So zeigt gleich Jason Buxtons Eröffnungsfilm „Sharp Corner“, ein kammerspielartiges Psychodrama, wie ein traumatisierter Familienvater (gespielt von Ben Foster) ein Helfersyndrom entwickelt, das ihn seelisch immer mehr zerrüttet. Im warmherzigen Film „Eephus“ wiederum müssen zwei Baseballteams auf ganz andere Art das Loslassen lernen. Dagegen widmet sich Albert Serra in seinem neuen, preisgekrönten Film „Afternoons of solitude“ dem traditionellen Männlichkeitskult des Stierkampfs. Indem der spanische Ausnahmeregisseur den berühmten Matador Andrés Roca Rey porträtiert, zeigt er das ebenso absurde wie qualvolle Ritual des Tötens. Schließlich begegnet uns im Abschlussfilm „Shepherds“ von Sophie Deraspe ein Werbetexter, der nach einem Burnout in ein provenzalisches Hirtendasein flieht.
Der Eskapismus hat in den diversen Sektionen des ästhetisch und inhaltlich vielseitigen Programms, das gewissermaßen als Vorpremieren auch die neuen, bereits andernorts gefeierten Filme von Jacques Audiard („Emilia Pérez“) und Mohammad Rasoulof („Die Saat des heiligen Feigenbaums“) präsentiert, allerdings nicht das letzte Wort. Zumal mit Agnieszka Holland (Hommage) und Lynne Ramsay (Grand IFFMH Award) zwei Filmemacherinnen besonders geehrt werden, die in ihren Werken politisches und soziales Engagement in filmisch innovativer Weise miteinander verbinden. Insofern könnte das eingangs beschriebene Titelbild auch die unterschwellige Aufforderung transportieren, die Augen zu öffnen, und zwar nicht nur im Kino.
Schlachtfelder der Gewalt. Die Retrospektive widmet sich dem Thema „Körper im Film“
Ziemlich allgemein und weit gespannt ist das Thema der diesjährigen Festival-Retrospektive. „Körper im Film“, so sein unscharfer Titel, kann vieles und fast alles sein. Denn dass menschliche Körper im Zentrum von Filmen stehen und unser Sehen verführen, wie es im programmatischen Ankündigungstext zu der von Hannes Brühwiler kuratierten 12-teiligen Reihe heißt, versteht sich fast von selbst. Und dass nicht nur schöne und trainierte Körper die Blicke des Publikums lenken, sondern auch hässliche oder sogar deformierte, gehört ebenfalls zu den offensichtlichen Merkmalen einer vielleicht merkwürdigen menschlichen Schaulust. Allerdings hat das Kino im Laufe seiner Geschichte Genres erfunden, in denen gerade die Erweiterung und Veränderbarkeit des Körpers im Zentrum stehen und insofern eng mit Science-Fiction-Szenarien verknüpft sind. Die Programmierer der Retrospektive haben deshalb gerade darauf ein besonderes Augenmerk gerichtet und eine Reihe gewalttätiger Action- und Horrorfilme ausgesucht.
Dazu zählen zunächst James Camerons eher harmloser Spektakelfilm „Terminator 2: Tag der Abrechnung“ (1991) mit seinen digital erzeugten Morphingeffekten sowie der brutale Actionfilm „The Raid“ (2011), der den Einsatz eines Spezialkommandos der Polizei als blutige Choreographie kämpfender Körper zeigt. Mit den Ekel- und Schockbildern aus David Cronenbergs legendärem Klassiker „Videodrome“ (1983), der die Grenze zwischen Realität und Illusion zum Verschwinden bringt, sowie Takashi Miikes berüchtigtem „Audition“ begibt sich die Auswahl aber auch auf das abschüssige Terrain des Body Horrors. Hier werden Menschen gefoltert und gequält, Körper deformiert und verstümmelt. So erlebt in „Audition“ (1999) ein einsamer Witwer, der nach einer neuen Frau sucht, einen regelrechten, vom japanischen Regisseur sehr kalkuliert inszenierten Albtraum.
Der Körper als Ausdruck der Identität, als Subjekt gesellschaftlicher Zuschreibungen oder als Medium sexuellen Begehrens sind weitere Themen der filmischen Rückschau. Gerade Nacktheit, Erotik und Sexualität sind in der zwangsläufig begrenzten Auswahl aber eher unterbelichtet. Immerhin finden sich mit Catherine Breillats verstörender Coming-of-Age-Geschichte „Meine Schwester“ (2001) über ein übergewichtiges Mädchen und Jane Campions ebenso albtraumhaftem wie anspielungsreichem Thriller „In the cut“ (2003) zwei Filme renommierter Regisseurinnen, die sich zumindest mit weiblichem Begehren beziehungsweise seiner Abwehr beschäftigen. In Bezug auf Sex und Gewalt folgt das Programm der Retrospektive leider den üblichen Geschlechter- und Rollenzuschreibungen. Ausgenommen davon ist Cheryl Dunyes als „queerer Kultfilm“ angekündigter Beitrag „The watermelon woman“ (1996), der sich in einer Mischung aus fiktiven und dokumentarischen Elementen, zugleich beschwingt und unterhaltend mit der sehr realen Namenlosigkeit schwarzer Menschen in der amerikanischen Filmgeschichte auseinandersetzt.
Die Hautfarbe und damit verbundene Diskriminierung stehen auch im Mittelpunkt von Ousmane Sembènes Schwarzweißklassiker „La Noire de…“ („Black girl“, 1966). Der bedeutende senegalesische Schriftsteller und Filmpionier erzählt darin vom Schicksal eines schwarzen, zunehmend isolierten Kindermädchens, das von einer französischen Familie unterdrückt und ausgebeutet wird. Neben diesem Beitrag ist Steve McQueens ebenso eindringliches wie ästhetisch radikales Werk „Hunger“ mit Michael Fassbender in der Rolle des IRA-Kämpfers Bobby Sands der wichtigste Film der Reihe. Bildlich angelehnt an die christliche Ikonographie, wird im selbstmörderischen Hungerstreik des Gefangenen der nackte und verletzliche Körper zur Waffe im Kampf um Würde und politische Anerkennung.