E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer

(CH 2024; Regie: Beatrice Minger)

Eine schützende Hülle für die unbegrenzte Vorstellungskraft

Das Haus liegt, in einer malerischen Bucht zwischen Klippen versteckt, direkt am Meer. Der Blick in das weite Blau, gerahmt und unterbrochen von einzelnen Pinien und Zypressen, hat etwas Traumverlorenes. Hier in Roquebrune-Cap-Martin an der Côte d’Azur, nahe der italienischen Grenze, hat die Designerin und Architektin Eileen Gray Ende der 1920er Jahre zusammen mit ihrem Freund Jean Badovici, einem aus Rumänien stammenden Architekturjournalisten, das Haus mit dem kryptischen Namen E.1027 entworfen, gebaut und mit eigens dafür designten Möbeln eingerichtet. Lebenslang habe sie sich nach solch einem kleinen, heimeligen Rückzugsort und Refugium gesehnt, einer unzugänglichen Insel, die zugleich eine spirituelle Erweiterung ermögliche. „Mit diesem Haus habe ich etwas gefunden, von dem ich nicht wusste, dass ich es vermisste“, schreibt Eileen Gray. Die Verbindung von Architektur und Natur, Offenheit und Privatheit ist auch eine Reminiszenz an ihre ebenso behütete wie freie Kindheit auf einem irischen Landsitz, wo sie 1878 in einer aristokratischen Familie geboren wurde, die ihr zeitlebens eine finanziell unabhängige Existenz sicherte.

In ihrem hybriden, zwischen historischen Dokumenten und fiktiven Spielszenen changierenden Film „E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer“ rekonstruieren Beatrice Minger und Christoph Schaub vor allem Lebens- und Arbeitsspuren, die zu diesem Projekt geführt haben. Während aus dem Off Gedanken und Erinnerungen der öffentlichkeitsscheuen Porträtierten zitiert werden, bewegen sich die Darstellerinnen Natalie Radmall-Quirke als Eileen und Axel Moustache als „Bado“ in einer Art Reenactment durch Räume an Originalschauplätzen oder in solchen, die im Studio nachgebaut wurden. Dabei geht es mehr um abstrakte Beziehungen zwischen Körpern und Räumen als um eine nachprüfbare, Kohärenz anstrebende Geschichte; zumal Gray, die 1976 im Alter von 98 Jahren starb, die Vernichtung privater Korrespondenzen verfügt hat und die „Lücken“ im – inhaltlich teils redundanten – Text deshalb gewissermaßen zwangsläufige sind. Die beiden Schweizer Filmschaffenden nutzen diesen „Mangel“, um ihrem in ausnehmend schönen Bildern komponierten Film eine dem Gegenstand angemessene offene und freie Forum zu geben, die auch intime Blicke nicht ausspart.

Denn gerade die Verbindung persönlicher, dezidiert weiblicher Gefühle und eine Vision avantgardistischer Unabhängigkeit beseelten auch das Schaffen Eileen Grays. Das Haus als schützende Hülle für den begrenzten, verletzbaren Körper und eine zugleich unbegrenzte Vorstellungskraft steht in der Folge im Gegensatz zu Le Corbusiers Idee einer „Wohnmaschine“. „Ein Haus ist keine Maschine, es ist das Gehäuse, die Schale des Menschen, seine Erweiterung, seine Befreiung, seine spirituelle Ausstrahlung“, schreibt die Nonkonformistin Gray. Nach einer unruhigen, von inneren Spannungen geprägten, „unscharfen Zeit“ im Paris der 1920er Jahre gestaltet sie zusammen mit dem jüngeren, Leichtigkeit ausstrahlenden „Bado“ für kurze Zeit einen Ort, an dem sich Geist und Herz verbinden. Als im Zuge des aufkommenden Riviera-Tourismus Le Corbusier (Charles Morillon) auf der Szene erscheint und nach Eileen Grays Rückzug das faszinierende Haus durch Wandmalereien für sich vereinnahmt, empfindet das die Architektin als einen „Akt der Gewalt“. Der Film zeigt diese umstrittene Aneignung und Übernahme in einer Mischung aus männlichem Machtgebaren und künstlerischem Vandalismus. Eileen Gray, die lieber etwas kreieren als besitzen will, findet den ihr gemäßen Ort schließlich abseits des Kunstbetriebs in ihrer Vorstellungskraft und in der Wirklichkeit ihrer Arbeit.

E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer
Schweiz 2024 - 89 min.
Regie: Beatrice Minger - Drehbuch: Beatrice Minger, Christoph Schaub - Produktion: Philip Delaquis, Frank Matter - Bildgestaltung: Ramon Giger - Montage: Gion-Reto Killias - Musik: Peter Scherer - Verleih: Rise and Shine Cinema - Besetzung: Natalie Radmall-Quirke, Axel Moustache, Charles Morillon, Vera Flück
Kinostart (D): 24.10.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt31597947/
Foto: © Rise and Shine Cinema