Gloria!

(IT/CH 2023; Regie: Margherita Vicario)

Befreiung durch Musik

Im Waisenhaus Sant’Ignazio unweit von Venedig wird die schweigsame Teresa (Galatéa Bellugi) von allen nur „die Stumme“ genannt. Dem autoritären Vorsteher des Musikkollegiums für mittellose Mädchen, bigotter Priester und selbstherrlicher Kapellmeister in Personalunion, gilt sie gar als zurückgeblieben und – obwohl er es besser weiß – minderwertig. Immer wieder würdigt Maestro Perlina (Paolo Rossi) die junge Frau herab und verpflichtet sie zu niederen Arbeiten. „Du musst stumm bleiben!“, sagt er beschwörend in Kenntnis ihres wahren Schicksals. Dabei ist Teresa musikalisch überaus begabt. Mit den kleineren Kindern musiziert sie mit selbstgebastelten Perkussionsinstrumenten, für die tägliche Haus- und Hofarbeit imaginiert sie Rhythmen und als sie in einem Kellerverlies ein nagelneues Pianoforte entdeckt, bringt sie sich als Autodidaktin heimlich selbst das Klavierspiel bei. Der berühmte Klavierbauer Johann Andreas Stein hat das für die Zeit um 1800 noch ungewöhnliche Instrument eigentlich den musikbegeisterten Chormädchen vermacht, doch der frustrierte Perlina verbannt es in den Keller.

In Margherita Vicarios Debütfilm „Gloria!“, einer ausdrücklichen Hommage an die von der Geschichtsschreibung vergessenen Musikerinnen und Komponistinnen, an ihre künstlerischen Talente und weibliche Kreativität, bilden die Schülerinnen eine eingeschworene Clique. Verbunden durch ihr gemeinsames Singen und Musizieren, formen sie ein Refugium weiblicher Solidarität und Freiheit. Die noch frischen Ideale der Französischen Revolution versprechen einen Aufbruch und lassen die einst ausgesetzten oder verlassenen Mädchen von einem anderen, freieren Leben träumen. Als sie eines Nachts Teresa beim Klavierspielen überraschen, treffen zunächst gegensätzliche musikalische Welten und individuelle Vorbehalte aufeinander. Denn „die Stumme“ kann nicht nur sprechen, sondern sie entlockt dem Instrument außerdem ungewöhnlich moderne Rhythmen und Klänge. Vor allem Lucia (Carlotta Gamba), hochbegabte erste Geigerin, die selbst komponiert, sieht in ihr eine Konkurrentin. Doch die regelmäßigen nächtlichen Treffen entwickeln sich bald zu einem gemeinsamen Projekt: Weil Perlina für den Besuch des in Venedig frisch gekrönten Papstes ein Konzert schreiben soll, den Zenit seiner Schaffenskraft aber überschritten hat, übernehmen seine Schülerinnen heimlich die anspruchsvolle Aufgabe.

Der italienischen Regisseurin, selbst Musikerin, geht es in ihrem schwungvollen, immer etwas über den erdenschweren Tatsachen schwebenden und deshalb eher luftigen Musikfilm weder um historische Genauigkeit noch um Plausibilität. Vielmehr huldigt sie ohne Scheu vor holzschnittartiger Figurenzeichnung und oberflächlicher Melodramatik der idealisierten Lust an der Freiheit. Diese richtet sich dezidiert gegen die Macht der Altvorderen, die von kirchlichen Autoritäten und ihren bürgerlichen Geldgebern verkörpert werden. Mit einem Hang zur Ästhetisierung sowie zum einerseits gerafften, andererseits etwas zu verzetteltem, ungenauem Erzählen platziert Margherita Vicario ihre moderne Botschaft einer den wahren zeitlichen Verhältnissen vorauseilenden Befreiung. Rasant montiert und inhaltlich mit genreüblichen filmischen Mitteln zugespitzt, mündet diese folgerichtig in einen musikalischen Skandal.

Gloria!
Italien/Schweiz 2023 - 106 min.
Regie: Margherita Vicario - Drehbuch: Margherita Vicario, Anita Rivaroli - Produktion: Valeria Jamonte, Paolo Del Brocco - Bildgestaltung: Gianluca Rocco Palma - Montage: Christian Marsiglia - Musik: Margherita Vicario - Verleih: Neue Visionen - FSK: ab 12 - Besetzung: Galatéa Bellugi, Carlotta Gamba, Maria Vittoria Dallasta, Sara Mafodda, Paolo Rossi, Vincenzo Crea
Kinostart (D): 29.08.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt26757264/
Foto: © Neue Visionen