Eine Jugenderinnerung in Alan Moores „Watchmen“ handelt vom Entsorgen einer Uhr. Der junge Jon Osterman, der später als blaufarbener Fastgott Dr. Manhattan berühmt werden wird, sitzt zu Hause am Schreibtisch und versucht, eine Taschenuhr wieder zusammenzusetzen. Es ist August 1945, sein Vater stürmt mit einer Tageszeitung ins Zimmer und sagt ihm, es seien nicht länger die Zeiten für das Reparieren von Uhren. Eine ganze Stadt ist fort, einfach so, es wird mehr Bomben geben, sie sind die Zukunft, und Zeit ist ohnehin an jedem Ort anders. Warum sollte sein Sohn ein obsoletes Handwerk lernen? Der Vater nimmt das Filztuch, auf dem die vielen feinen Einzelteile der Uhr ausgelegt sind, und geht nach draußen zur Feuerleiter. Dort schüttelt er das Tuch aus und die Zahnräder regnen auf Brooklyn hinab. Die Atombombe ist da, die Zeit hat sich geändert und ändert sich weiter und „die Zahnräder fallen…“
Um diese drei Koordinaten ist Christopher Nolans „Oppenheimer“ gebaut. Das unmittelbare Da-sein der Bombe ist Ausgangspunkt seiner Bewegungen, die sich ändernde Zeit sein Thema, die fallenden Zahnräder seine Form. Das Chronotaumeln der Erzählung ist das früheste Indiz dafür: Sie tauscht zwischen farbigen und schwarzweißen Bildern und jongliert mit den Zeiträumen, die sie betritt und verlässt wie verirrt, sich zurechtfindend zwischen den Reibungen historischer Kräfte; das wechselnde nach vorn und Zurückblicken der Narration gleich einem ständigen Lidzucken. Die Bombe funkelt wie ein Kristall im Zentrum und ist zugleich Umbruchspunkt, lange ordnet sie das Geschehen, wir orientieren uns in den Bildern nur danach, ob es sie bereits gibt oder noch nicht. Niels Bohr bringt das (fast) auf den Punkt, wenn er zu Oppenheimer sagt, es ginge hier nicht um eine neue Waffe, sondern um eine neue Welt. Es geht auch um eine neue Zeit, es gibt nur ein vor der Bombe und ein nach ihr, und weil sie alles ins Wanken gebracht hat – the cogs are falling –, lässt sich das erzählerisch nicht linear lösen, sondern zirkelnd, immer vom Danach und Davor im Wechsel kommend. Was die perfekte Zusammensetzung einer mechanischen Uhr in Ordnung gebracht hat und Jahrzehnte in Ordnung halten konnte, ist mit der Detonation in tausend Einzelteile zerfallen.
Dem Film steckt dieser temporale Bruch in seiner Gestaltung, diese zwei Zeitalter, nicht mehr zueinander gehörend, aber sich in der Bombe längst ineinander verkeilt: In den vielen Universitätshallen des ersten Drittels atmet das neunzehnte Jahrhundert seine letzten Züge, genauso wie in den Szenen auf dem Land zu Pferde, die vor dem schwarzblau verhangenem Himmel aussehen wie ein apokalyptischer Spätwestern. Da ist die alte Zeit, die sich trotz des Ersten Weltkriegs irgendwie halten konnte, auch wenn alle wissen, dass sie erschöpft ist. Und dann ist da die Moderne, das brachialbeschleunigte zwanzigste Jahrhundert: Die Geliebte Oppenheimers ist Jungianerin, die Psychoanalyse ist in die Hirne der Menschen gedrungen, sie rezipieren die Revolutionen in Europa, Marx ist in den USA angekommen, im Museum blickt ein Picasso herausfordernd mit seinen deformierten Augen direkt in unsere, ganz kurz ist T. S. Eliots „The Waste Land“ zu sehen – genau jenes Gedicht, in dem das Verloren-Sein in diesem neuen, sich zu rasant entfaltenden und in Partikel fragmentierten Jahrhundert so akut aus dem Fluss seines schreibenden Bewusstseins stürzte. Kurz danach erschien der zweite große Text von Eliot, „The Hollow Men“, auch das hätte der Titel des Films sein können, und in seinem montierten Durcheinander scheint es, als wäre die letzte, berühmteste Zeile dieses Gedichts in ihrer Reihenfolge vertauscht worden: This is the way the world ends/ Not with a whimper but a bang.
Das sind die kulturellen Fixpunkte dieser neuen Zeit, jetzt entstehend: In der Bombe, die alle Kriege zu beenden sucht, findet sie ihr Objekt. Wir neigen dazu, den kollektiven Ausdruck einer Epoche in seinen kulturellen Gegenständen und Errungenschaften zu suchen und liegen damit häufig richtig, doch hier ist es genau diese Waffe und ihre Herstellung: zu gleichen Teilen Kulminations- und Wendepunkt des Jahrhunderts. Wenn etwas Zentrum und Zäsur derselben Sache ist, entsteht zwangsweise eine Spannung, die sich nicht ohne weiteres entladen kann. Die Menschen in diesem Film wissen das, während sie die Kernwaffe bauen – sie drehen gewaltsam an den Schrauben der Welt und die Lasten der Geschichte, sich gerade selbst schreibend, erdrücken sie beinah, aber nicht genug, um zu zögern.
Die Werkzeuge und Maschinen und schließlich die Bombe selbst sehen aus wie Objekte, die in ihrer Erscheinung sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft ragen und verdichten erneut den Zeitblitz, in dem sich dieser Film aufhält. Die Trinity-Bombe ist ein Hybrid aus Weltraumkapsel und Taucherglocke, archaisch und futuristisch weist sie in einer einzigen materiellen Geste in die unendliche Höhe und Tiefe, ist nach oben und unten, in beide Enden menschlicher Vorstellungskraft gerichtet. Obwohl die Fotos von ihnen bekannt sind, werden diese Gegenstände uns nie vertraut vorkommen. In einem der unheimlichsten Bilder des Filmes stecken die Forschenden behutsam keilförmig abgerundete Komponenten auf eine massive Kugel, um sie zu ummanteln. Sie bauen den Sprengkopf, aber es sieht aus, als versuchten sie das Rätsel eines Artefakts zu lösen, das ihnen zugefallen ist aus einer anderen Zeit und das sie nicht verstehen.
Aber auch wenn es so aussieht: Nicht gefunden haben sie, was sie da zusammensetzen, sondern selbst gemacht, und weniger das Machen denn den Ereignisradius drum herum besieht der Film innerhalb der gesetzten Koordinaten: So erzählt er von der Erschaffung eines Objekts, das mit seinem In-die-Welt-Kommen ein schreckliches Rätsel wird, dessen Bedeutung und Folgen nicht begreifbar werden. Deswegen besteht „Oppenheimer“ aus reihenweise Gesprächen, die die Erzählung strukturieren, streng genommen ist er ein Film im dokumentarischen Gestus der talking heads: Bedeutende Persönlichkeiten der Geschichte wechseln sich in ihren Statements ab, Dialog folgt auf Dialog, sie fallen sich gegenseitig über die Zeiten hinweg ins Wort – als erhofften sich diese Menschen vom erschöpfenden Aussprechen und vom immer neu sprachlichen Drehen und Wenden der Tatsachen, Sinn aus ihnen zu ziehen. Oppenheimer selbst erahnt die Folgen vielleicht – die Trümmer eines kommenden Krieges, wie sie vor ein paar Jahren in „Tenet“ einmal erwähnt werden, spürt und sieht er, sie sind letztlich der Horizont dieses Films, obwohl weder Hiroshima noch Nagasaki noch alles danach konkret zu sehen sind. Stattdessen schwebt die Drohung, die diese Waffe ist, über der Atmosphäre, vor deren Entzündung sich alle fürchten, und auch wenn sie (noch) intakt bleibt, wird alles unter ihr in permanente Alarmbereitschaft versetzt, in eine Unruhe, die sich nicht abschütteln lässt.
Und da, bei dieser unabschüttelbaren Unruhe des Films und der Welt, von der er zeigt, liegt der Schulterschluss mit seinem analogen Material, wie ein letzter Schlüssel zu seiner Form. Es mag mühselig anmuten, darüber zu sprechen, schließlich war es neben den Trailern die am intensivsten betriebene Werbemaßnahme seitens Universal, die Analogizität des Films zu betonen. Und es ist seltsam, dass Chris Nolan, dieser vokalste Verfechter des Zelluloids, bislang eigentlich nie konzeptuell im strengen Sinn damit gearbeitet hat – seine vorherigen Filme haben ihre puristisch-analoge Optik: eine Farbgebung, Lichtdramaturgie und ein Kontrastverhalten, an dem Digitalsensoren schlicht scheitern. Doch hier wird das analoge Material und seine singuläre Verhaltensweise in der Projektion das erste Mal zu einer künstlerischen Setzung. Die am vernichtenden Chaos kratzenden Aspekte dieser Geschichte werden über die schwindelige Montage und den brodelnden Sound, die unzähligen Gespräche und das subject matter an sich zwar vermittelt. In erster und letzter Instanz aber ist es der analog projizierte Film, der dieser immerzu subtil bebenden Atmosphäre des Films wirklich ihren ästhetischen Hall gibt, ihre visuelle Form: weil Film immer zittert.
Wir sehen das, wenn Ruhe in die Bilder zu kehren scheint, wenn sich gerade nichts bewegen dürfte und es doch tut, oder auch, wenn Text zu sehen ist – schon das Syncopy-Logo zu Beginn schwankt subtil. Weil das analo gprojizierte Bild nicht stillstehen kann, auch wenn es die Einstellung vorgäbe. Die dauernd tanzende Bewegung seines Korns und der vibrierende Bildstand und das unnachgiebige Flimmern der Lichtbildfläche verhindern seine Stasis. Film findet keine Ruhe, es ist gegen seine Natur als hochgeschwindigkeitsschnell durch eine große Linsenapparatur geschleuderter Streifen mit Bildern. Nolan intensiviert an verschiedenen Punkten genau diese dauerzuckende Bewegung, lässt in Schlüsselmomenten den Hintergrund von Oppenheimers Gesicht nervös wackeln. Aber das wäre gar nicht notwendig. Das Zittern ist immer da, gehört intrinsisch zum analogen Bild. Und hier, in diesem Film, erzählt es plötzlich etwas von der Welt, in der es diese Waffe auf einmal gibt und mit der wir nun in ihr leben müssen, ohne je richtig zu begreifen, was das eigentlich heißt und darin nicht mehr zur Ruhe kommen. Das Zittern des Films ist gleiche, in das diese Welt geraten ist und seitdem nie mehr geschafft hat, sich zu beruhigen. Und die Zahnräder fallen weiter.