Ein kleines Stück vom Kuchen

(IR/FR/SE/DE 2024; Regie: Maryam Moghadam, Behtash Sanaeeha)

Unverhofftes Glück

Seit vielen Jahren lebt die verwitwete Mahin (Lily Farhadpour) allein in ihrer geräumigen Teheraner Wohnung. Weil sie nachts schlecht schläft, beginnen die Tage für sie oft erst um die Mittagszeit. Auf vormittägliche Telefonanrufe reagiert die 70-Jährige deshalb gereizt und mürrisch. Dreißig Jahre lang hat Mahin als Krankenschwester gearbeitet. Jetzt schleppt sie sich träge und lustlos durch die Routinen gleichförmiger Tage, erledigt Einkäufe und wässert die Pflanzen ihres geliebten Gartens. Manchmal telefoniert sie mit ihren Kindern, die im Ausland leben und wenig Zeit und Aufmerksamkeit für sie haben. Dabei sehnt sich Mahin insgeheim nach Nähe und Austausch, um ihre Einsamkeit abzumildern. Zu ihren kleinen, wiederkehrenden Freuden gehört deshalb eine kitschige Seifenoper im Fernsehen, in der von Liebe, Treue und einem „Mann der Träume“ die Rede ist, der die Angst vor dem Alleinsein vertreibt. Auch in der Runde gleichaltriger Freundinnen, die sich hin und wieder versammelt und in der viel gegessen, getrascht und gelacht wird, ist man der Meinung, Mahin müsse sich einen Freund suchen.

Aufmerksam und genau beobachten die iranischen Filmemacher Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha in ihrem preisgekrönten Film „Ein kleines Stück vom Kuchen“ die vereinsamte Heldin in ihrem unspektakulären, in der Regel unsichtbaren Alltag. Mit einem sanften, leicht tragikomischen Realismus, der sich in ruhigen, statischen Einstellungen entfaltet, durchbrechen sie Darstellungsverbote und ermöglichen so den Blick auf eine tabuisierte gesellschaftliche Wirklichkeit. Offen und ehrlich sprechen sie über die Gefühle einer älteren Frau, deren Hoffnungen und Wünsche sonst verschwiegen werden müssen. Moghaddam und Sanaeeha wurden für diese filmische Aufrichtigkeit, deren emanzipatorischen Kraft vor allem in der zweiten, kammerspielartigen Hälfte des Films zum Ausdruck kommt, in ihrem Heimatland sanktioniert und mit Restriktionen belegt.

Am Übergang zu Mahins spätem Glück, für das sie den Alltagstrott durchbricht und offensiv die Initiative ergreift, steht bezeichnenderweise eine markante, beispielhafte Szene, die sich auch als riskantes politische Statement der beiden Regisseure verstehen lässt: Mutig, unerschrocken und resolut verteidigt die Heldin in einem Park eine junge Frau gegen die Zumutungen und Anwürfe einer übergriffigen Sittenpolizei, die das Mädchen wegen eines verrutschten Kopftuchs verhaften will.

Kurz darauf lernt Mahin den gleichaltrigen Taxifahrer Faramarz (Esmaeil Mehrabi) kennen, einen Kriegsveteran im Ruhestand, der geschieden ist und keine Kinder hat und sich wie Mahin seit langem nach einem anderen Menschen und nach einer vertrauten Zweisamkeit sehnt. Die beiden verstehen sich sofort und entdecken in langen Gesprächen eine gegenseitige Nähe geteilter Gemeinsamkeiten, Anschauungen und Freuden. Ihr Schönheitsempfinden sowie ihre Liebe für Musik und Tanz, Blumen und Wein, inszeniert als lustvolle Übertretungen der üblichen Regeln, zeigen eine weitere Facette des Politischen im scheinbar Unpolitischen. Mit letzter Konsequenz und darin durchaus versöhnlich thematisiert der berührende Film auf ganz eigene Weise die unverhoffte Erfüllung eines Glücks, das aus der zufälligen Begegnung der beiden erwächst.

Ein kleines Stück vom Kuchen
(Keyke mahboobe man)
Iran/Frankreich/Schweden/Deutschland 2024 - 97 min.
Regie: Maryam Moghadam, Behtash Sanaeeha - Drehbuch: Maryam Moghadam, Behtash Sanaeeha - Produktion: Etienne de Ricaud, Peter Krupenin, Gholamreza Moosavi, Behtash Sanaeeha, Christopher Zitterbar - Bildgestaltung: Mohamad Hadadi - Montage: Ata Mehrad - Musik: Dounia Chaouih - Verleih: Alamode - FSK: ab 12 - Besetzung: Lili Farhadpour, Esmaeel Mehrabi, Mohammad Heidari, Melika Pazouki
Kinostart (D): 11.07.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt31015278/
Foto: © Alamode