Was uns hält

(IT/FR 2020; Regie: Daniele Luchetti)

Ambivalente Bindungskräfte

Neapel, Anfang der 1980er Jahre. Eine Familie tanzt im Gruppenreigen. Der Boden ist mit buntem Konfetti übersät, die Stimmung ist fröhlich und ausgelassen. Doch gegen die scheinbare Objektivität der Karnevalsfeierlichkeiten wirft die Kamera immer wieder subjektive Blicke auf den Gleichschritt der Füße und in die Gesichter der Tanzenden, deren Freude verhalten zu sein scheint. Später badet der Familienvater Aldo (Luigi Lo Cascio), der als Radiomoderator einer Literatursendung in Rom arbeitet, seine Kinder Anna und Sandro. Aldo ist ein zärtlicher Vater. Bevor er eine Gutenachtgeschichte vorliest, versammelt sich die Familie vor dem Fernseher, um einen Dokumentarfilm über das Sozialverhalten einer Löwenfamilie zu sehen. Im Halbdunkel des Wohnzimmers strahlt dieses Bild eine behagliche Geborgenheit aus. Doch das Familienglück täuscht, als Aldo kurz darauf seiner Frau Vanda (Alba Rohrwacher), einer Lehrerin, gesteht, dass er ein Verhältnis mit einer anderen Frau habe.

Die Erschütterungen, die dieses Geständnis bei Vanda auslösen und kurz darauf das ganze Familiengefüge erfassen, sind heftig. Sie bilden fortan den schwankenden Untergrund, auf dem sich Daniele Luchettis schmerzliches Ehe- und Familiendrama „Was uns hält“ („Lacci“) entfaltet. Denn Vanda fällt in ein Loch aus Hilflosigkeit und Leere. Überwältigt von Eifersucht, Wut und namenlosem Schmerz appelliert sie an Aldos Eheversprechen und an seine Loyalität. Sie leidet unmäßig, fordert Aldos väterliche Verantwortung ein und macht ihm auf offener Straße eine schockierende Szene. Dabei wechselt Luchetti, der hier einen Roman von Domenico Starnone adaptiert, immer wieder die Perspektive. Wo früher Intimität war, herrscht jetzt Distanz, die nicht zuletzt aus den verunsicherten und verängstigten Blicken der Kinder spricht. Vanda unternimmt einen Selbstmordversuch, das Paar trifft sich vor dem Scheidungsrichter. Trotzdem sind sie Jahrzehnte später, jetzt alt und gutsituiert, wieder vereint.

Doch das frühere Unglück schwelt noch immer, die Wunden brechen wieder auf. In kurzen Flashbacks in die erinnerte Vergangenheit überbrückt Daniele Luchetti die Zeiten und stellt so der Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit die Freiheit des Begehrens gegenüber, die vor allem der innerlich zerrissene Aldo verkörpert. Er sei unentschlossen, egoistisch und planlos, wirft ihm Vanda vor. Tatsächlich ist Aldo unentschieden und kann seine wahren Gefühle nur schwer ausdrücken. In langen Gesprächen reflektieren die beiden ihre beschädigte Liebe, was sich zur Bilanz eines desillusionierten Lebens und seiner versäumten Möglichkeiten verdichtet. Stimmungsvolle, sparsam eingesetzte Klaviermusik von Bach und Scarlatti verstärken diese melancholische, mit diversen Referenzen angereicherte Atmosphäre. Dagegen steht die Wut der erwachsenen Kinder, die sich gegen allzu lang unterdrückte Gefühle und emotional schmerzliche Bindungen richtet. Die „Schuhbändel“ des italienischen Originaltitels symbolisieren schließlich diese Ambivalenz zwischen zwangsläufiger Verbundenheit und dem Versuch, sich aus ihr zu lösen.

Was uns hält
(Lacci)
Italien/Frankreich 2020 - 100 min.
Regie: Daniele Luchetti - Drehbuch: Domenico Starnone, Francesco Piccolo, Daniele Luchetti - Produktion: Beppe Caschetto, Valentina Merli - Bildgestaltung: Ivan Casalgrandi - Montage: Daniel Luchetti, Adel Dallier Vega - Verleih: Film Kino Text - Besetzung: Alba Rohrwacher, Luigi Lo Cascio, Laura Morante, Silvio Orlando, Giovanna Mezzogiorno, Adriano Gianni, Linda Caridi
Kinostart (D): 20.06.2024

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt12585254/
Foto: © Film Kino Text