„Die Erkenntnis liegt in der Nostalgie. Wer nichts verloren hat, besitzt sie nicht“, wird zu Beginn des Films Pier Paolo Pasolini zitiert. Ein Mann mittleren Alters kehrt nach langer Abwesenheit zurück nach Neapel. Wie ein Fremder bewegt er sich gemessenen Schrittes und mit aufmerksamem Blick durch die belebten Straßen und verwinkelten Gassen des alten Viertels Sanità. Vierzig Jahre lang hat Felice Lasco (Pierfrancesco Favino), der als Bauunternehmer in Kairo lebt, die Orte seiner Kindheit und wilden Jugend nicht gesehen. Merkwürdig vertraut erscheinen ihm diese bei seiner langsamen Annäherung. Nichts habe sich verändert, als seien die Zeit und mit ihr das Leben stehengeblieben. Und tatsächlich wirken die in Rückblenden und in einem anderen Bildformat eingestreuten Erinnerungen wie ein Abbild der Gegenwart. Nur die Tür zur elterlichen Wohnung bleibt zunächst verschlossen. Denn Felices alte Mutter Teresa (Aurora Quattrocchi), eine ehemalige Näherin, ist mittlerweile in einer anderen Wohnung des maroden Hauses untergebracht.
Fürsorglich und liebevoll kümmert sich der nachdenkliche Heimkehrer um seine gebrechliche, vernachlässigte Mutter, die noch einmal aufblüht und dann plötzlich stirbt. „Ab heute wird deine Mutter in dir leben. Heiße sie willkommen“, sagt der Priester Don Luigi (Francesco Di Leva) zum trauernden Sohn. In dem von der Camorra dominierten Viertel, das außerdem unter einer hohen Arbeitslosigkeit leidet, ist der Geistliche mit seiner Kirche ein Hort des Widerstands und der Integration. Don Luigi hält nicht nur flammende Reden gegen das organisierte Verbrechertum, sondern bietet den gefährdeten Jugendlichen in den Kirchenräumen ganz unkonventionell auch einen sicheren Rückzugs- und Gegenort. Bald und nach anfänglichen Widerständen gehört auch Felice zu seinen Schützlingen. Denn dieser wird geplagt von einer schweren Vergangenheit und der tiefen Freundschaft zu einem Mann namens Orest (Tommaso Ragno), der jetzt einer der berüchtigten Clan-Bosse ist.
In seinem atmosphärisch stimmungsvollen Film „Nostalgia“, einer Adaption des gleichnamigen Romans von Ermanno Rea, folgt der selbst aus Neapel stammende Film- und Theaterregisseur Mario Martone seinem melancholischen Helden durch die Labyrinthe der Stadt und der Erinnerung. Dabei taucht der Heimwehkranke langsam und sehr bewusst immer tiefer ein in eine unstillbare Sehnsucht, die ihn mit seiner Identität verbindet und zugleich zunehmend gefährdet. Verloren zwischen Vergangenheit und Gegenwart verirrt sich Felice in einem notwendigen, aber trügerischen Gefühl von Nähe und Vertrautheit. In einem getragenen Rhythmus und mit einer genauen, fast dokumentarisch anmutenden Milieuzeichnung erzählt Mario Martone von der Nostalgie eines Mannes, der in eine Heimat zurückkehren möchte, die ihn einst ausgestoßen hat und nun nicht mehr haben will. Felices Sehnsucht ist zugleich sein Schicksal.