Eine Gruppe alter Menschen, zum Blick des Betrachters frontal aufgereiht in Rollstühlen, intoniert mit brüchiger Stimmkraft das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Wie seinen vorhergehenden Film „Rimini“ eröffnet Ulrich Seidl auch „Sparta“, den zweiten Teil seines filmischen Diptychons über zwei ungleiche Brüder, mit dieser Szene in einem Seniorenheim. Und es liegt erneut im Urteil des Betrachters, ob er diese problematische Darstellungsform ausgestellten Leids als mitfühlend oder einfach nur als zynisch empfindet. Auch die Szenen mit dem Heiminsassen Ekkehart (Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle) sind ein Déjà-vu. Nur wird der demente Alt-Nazi, der verloren durch die Gänge irrt und alte Kampflieder summt, diesmal nicht vom abgehalfterten Schlagersänger Richie Bravo besucht, sondern von dessen verdruckstem Bruder Ewald Scholz (Georg Friedrich). Dieser schiebt den Vater auf den Friedhof, um ihn mit der Urne seiner kürzlich verstorbenen Frau abzulichten.
Dann fährt Ewald nach Rumänien, wo er in der Schaltzentrale einer großen, von außen marode ausschauenden Fabrik in offensichtlich leitender Position arbeitet. Um was es dabei geht, bleibt unklar. Ewald hat auch eine junge rumänische Freundin, die er bald heiraten will. Doch weil es mit dem Sex nicht klappt und beide darüber frustriert sind, packt Ewald eines Tages wortlos seinen Koffer. Parallel dazu deutet der Film an, dass sich der Mittvierziger offensichtlich stärker zu kleinen Jungs hingezogen fühlt. Immer wieder sucht er Spielplätze auf und mischt sich zunächst auf scheue Art in Kinderspiele ein. Ewald sehnt sich nach einer Nähe, die er sich zugleich verbietet. Er leidet, weil er sein pädophiles Begehren unterdrückt. Das scheint sich zu ändern, als er im Sommer in der baufälligen Schule eines entlegenen Dorfes ein Judo-Camp für Kinder errichtet, die sich dort bald wohler fühlen als in ihren zerrütteten Elternhäusern. Kurz darauf deutet sich eine ebenso schüchterne wie zärtliche Liebe zwischen Ewald und einem der Jungen an.
Dass der Protagonist ganz selbstverständlich fremde Höfe und Häuser betritt, seine „Sparta“ betitelte Festung zusammen mit den Kindern errichtet und dabei kaum behelligt oder befragt wird, mutet wie manches andere merkwürdig unplausibel an. Zumal Ulrich Seidls zweifelhafte Wirklichkeitserforschung neben der üblichen Improvisation mit Laienspielern noch deutlicher dokumentarische Mittel einsetzt. Zwar inszeniert er noch immer mit einer gewissen Schaulust seine berüchtigten Tableaus der Hässlichkeit, aber die Schnittfrequenz, verbunden mit einem flüssigen Handkamerastil, ist deutlich erhöht. Im grauen, rauen und kaputten Ambiente finden gegensätzliche Außenseiter an einem selbstgewählten Zufluchtsort zu einer Gemeinschaft zusammen und – ungeachtet abstruser Plot-Twists – zu einer Geborgenheit. Ulrich Seidls Helden sehnen sich trotz aller Widersprüche auch in „Sparta“ nach einem „Paradies: Liebe“. Doch auch diesmal lässt die Vertreibung daraus nicht lange auf sich warten: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, erklingt deshalb erneut zum Schluss der Anfang aus Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“.