Roter Himmel

(D 2023; Regie: Christian Petzold)

Das Leichte und das Schwere

„In my mind, love’s gonna make us blind“, singen die Wallners aus dem Off, während ein Auto durch ein Waldstück mehr gleitet als fährt. Die vorbeiziehenden, im Autofenster gespiegelten Baumreihen, die sich auf das schläfrige Gesicht eines jungen Mannes legen, verbinden sich mit den schwebenden Sounds der Musik zu einer traumverlorenen Atmosphäre. Diese endet jäh, als das Fahrzeug plötzlich mit einer Panne liegenbleibt und die beiden Freunde Felix (Langston Uibel) und Leon (Thomas Schubert) die letzten Kilometer zum idyllischen Ferienhaus an der Ostsee zu Fuß mit dem schweren Gepäck zurücklegen müssen. Es ist dies der bezeichnende Auftakt einer ganzen Reihe unvorhergesehener Bedingungsänderungen und nicht geplanter Situationen, die von den Ankömmlingen eine Anpassungsleistung verlangen. Denn bei ihrer Ankunft müssen sie feststellen, dass das Haus schon belegt ist und sie also nicht allein sein werden. In den Zimmern herrscht Unordnung, eines davon ist schon belegt und so müssen sich die beiden jungen Männer das andere teilen.

Lange bleibt die hübsche Nadja (Paula Beer) fast ein Phantom. Bevor sie die Szene betritt und sichtbar wird, ist sie zum Leidwesen der anderen nur zu hören, wenn sie nachts beim Liebesspiel mit dem Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs) stöhnt. Vor allem der stets mürrische und angeödete Leon, der als angehender Schriftsteller an seinem zweiten Roman arbeitet und sich unentwegt allen anderen möglichen Aktivitäten verweigert, fühlt sich gestört, reagiert distanziert und abweisend. Während er wichtigtuerisch Schreibarbeit simuliert und dabei das Leben der anderen beobachtet, genießen diese die Freiheit eines unbeschwerten Sommers am Meer. Insgeheim eifersüchtig, missgünstig und nicht frei von Vorurteilen kreist Leon um sich selbst und versäumt dabei sich, die anderen und das Leben. Er leidet darunter, ausgeschlossen zu sein, und tut alles dafür, diesen Status gegen seine eigentlichen Gefühle aufrechtzuerhalten. Liebe macht eben blind. Doch die Flammen der Waldbrände, die nachts den Himmel rötlich färben und sich immer bedrohlicher nähern, sind bald nicht mehr zu übersehen.

Sehr spielerisch, mit überraschenden Wendungen und subtilen Zwischentönen inszeniert Christian Petzold in seinem neuen Film „Roter Himmel“ die Entwicklungsgeschichte eines jungen, unsicheren und von Selbstzweifeln geplagten Mannes, der gezwungen wird, sein mühsam geschaffenes und kultiviertes Selbstbild neu zu hinterfragen und dabei auf die anderen zuzugehen. Besonders als Leons Verleger (Matthias Brandt) eintrifft, nach und nach die Biographien und Identitäten der andern sichtbar werden und ein tragisches Unglück die Beziehungen überschattet, wird Leons unfreiwillige Häutung zum schmerzlichen Prozess. Trotzdem gelingt es Petzold auf filmisch feinfühlige Weise eine wunderbare Balance zwischen Leichtem und Schwerem zu halten und dabei ganz selbstverständlich auch das Verhältnis von Leben und Kunst zu thematisieren. Denn nach diesem Sommer einer blinden Selbstkonfrontation wird der verloren erscheinende Held seine Erlebnisse in einem neuen Roman verarbeiten.

Roter Himmel
Deutschland 2023 - 103 min.
Regie: Christian Petzold - Drehbuch: Christian Petzold - Produktion: Florian Koerner von Gustorf, Michael Weber K: Hans Fromm - Bildgestaltung: Hans Fromm - Montage: Bettina Böhler - Verleih: Piffl Medien - FSK: ab 12 - Besetzung: Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel, Enno Trebs, Matthias Brandt
Kinostart (D): 20.04.2023

DVD-Starttermin (D): 09.11.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt26440619/
Foto: © Piffl Medien