Ein Bus steht im Stau. Es ist dunkel, nass und kalt. Weil die mitreisende Ukrainerin Irina (Vita Smachelynk) sehr in Eile ist, steigt sie kurzerhand in diesem unwirtlichen Nirgendwo aus, um nach einer anderen Mitfahrgelegenheit zu suchen. Die Handkamera folgt ihr dabei in einer langen Einstellung aus subjektiver Perspektive und gibt damit die sozialrealistische Tonlage von Michal Blaškos Film „Victim“ vor. Dann sieht man die besorgte junge Mutter am Krankenhausbett ihres minderjährigen Sohnes Igor (Gleb Kuchuk), der schwerverletzt eingeliefert wurde und operiert werden musste. Angeblich wurde er von mehreren gleichaltrigen Jungs aus der Nachbarschaft verprügelt, die in der tschechischen Kleinstadt zur Minderheit einer Roma-Community gehören. Die Hochhaussiedlung, in der die beiden gesellschaftlichen Randgruppen aufeinandertreffen, gehört zu einem sozialen Brennpunkt. Irina, die offensichtlich nicht zum ersten Mal Ärger mit ihrer Nachbarschaft hat, ist stark und willens, sich und ihren Sohn zu verteidigen.
Diese Details werden nach und nach erzählt und fügen sich erst allmählich zu einem zunehmend widersprüchlichen Bild. Ein Kriminalkommissar namens Novotný (Igor Chmela) ermittelt wegen schwerer Körperverletzung. Oder handelt es sich womöglich um einen Unfall, den der Junge aus Scham zu kaschieren versucht, weil er im Übermut einem Mädchen imponieren wollte? Bald hat der Zuschauer gegenüber anderen Figuren einen Wissensvorsprung und wird damit zum Komplizen von Mutter und Sohn. Die alleinerziehende Irina, die in einem Einwanderer-Wohnheim als Reinigungskraft arbeitet und einen Sprachkurs absolviert, befindet sich offenbar in einer prekären Lage. Seit Jahren bemüht sie sich vergeblich um die tschechische Staatsbürgerschaft, die ihr außerdem dabei helfen soll, zusammen mit einer Freundin einen Frisiersalon zu eröffnen.
Der slowakische Regisseur Michal Blaško entfaltet in seinem mit Genre-Elementen angereicherten Sozialdrama „Victim“ ein dichtes Geflecht aus Wahrheit und Lüge, gegenseitigen Abhängigkeiten und Vorurteilen. Dabei führt er seine unter vielfachen Einflüssen und Einflüsterungen stehende Protagonistin, die zugleich als Vehikel für die Darstellung gesellschaftlicher Einflussnahme fungiert, sukzessive in ein tiefes moralisches Dilemma, das entfernt an ähnliche Konfliktlagen in den Filmen der Brüder Dardenne oder auch in denjenigen des Iraners Asghar Farhadi erinnert. Diese missliche Lage, die aus der Dynamik einmal getroffener Entscheidungen und aus dem Zwang der Umstände resultiert, spitzt sich noch zu, als der smarte, sich tolerant gebende Rechtsnationale Selský (Viktor Zavadil) im Verbund mit der Presse den Fall für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren versucht. Zwischen mühsam unterdrückten Schuldgefühlen und einem natürlichen, sehr menschlichen Gerechtigkeitsempfinden versucht sich Irina gegen subtile Manipulationen und Erpressungen zu wehren. Ihr Engagement zielt immer deutlicher auf Wiedergutmachung. Einmal sagt sie zu Igor: „Das Wichtigste ist jetzt, dass wir nicht zu viel reden.“