Music

(DE/FR/GR/RS 2022; Regie: Angela Schanelec)

Poesie des Ungesagten

Im dunklen Rauschen des Windes treiben dichte Nebelschwaden über eine Gebirgslandschaft und verhüllen das ätherische Bild. Dann zerreißt ein plötzlicher Donnerschlag, der wie aus dem Nichts kommt, die dumpf tönende Stille und führt ins Dämmerlicht eines beginnenden Tages. Ein Mann trägt bergaufwärts eine Frau über Steine und Geröll. Deren herzzerreißende Schreie künden von einer Niederkunft. Am darauffolgenden Morgen finden Sanitäter den Mann auf dem felsigen Untergrund zwischen Bienenstöcken. Von der Frau fehlt jede Spur. Schließlich wird in einem niederen, steinernen Ziegenstall der Säugling gefunden und geborgen.

Schon die ersten, meist aus der Distanz aufgenommenen Bilder aus Angela Schanelecs neuem Film „Music“ eröffnen einen mythologischen Raum, belebt von statischen Figuren, symbolischen Handlungen und vagen, unausgesprochenen Bedeutungen. In langen, unverbundenen Einstellungen gewinnen Räume und die sinnliche Natur einer südlichen Landschaft an Gewicht. Dazwischen betonen kurze Schnitte auf Details die sorgsame Arbeit der Hände, die Körperlichkeit der Dinge oder nicht weiter ausgedrückte Gefühle. Denn die meist schweigenden Figuren sind weder Träger psychologischer Charaktere noch primär über ihre rudimentären Handlungen zu verstehen. Ihr „Spiel“ aus starrer Mimik, statischer Präsenz und wenigen Gesten ähnelt vielmehr einem Ritual, das auf das „Erscheinen“ einer Bedeutung vertraut. Dieser ungreifbare, gewissermaßen transzendente Gehalt resultiert aus der sehr stilisierten, theatralischen Mechanik der Ereignisse und korrespondiert außerdem mit einer elliptischen Erzählstruktur. Deren Auslassungen beschwören ähnlich wie in den Filmen Robert Bressons eine Poesie des Ungesagten.

Was dann tatsächlich, aber jenseits einer realistischen Erzählung gezeigt wird, ist, so die Vorinformation, vom Ödipus-Mythos inspiriert. Demnach tötet der thebanische Königssohn unwissentlich seinen Vater, schläft mit seiner Mutter und blendet sich, als er seine schicksalhafte Schuld erkennt. Auch Jon (Aliocha Schneider), der an seinen „Schwellfüßen“ erkennbare Ödipus aus Angela Schanelecs „Nicht-Tragödie“, wird durch eine unglückliche Tat zum Mörder und landet deshalb im Gefängnis. Dort verliebt sich die Wärterin Iro (Agathe Bonitzer) in den Gefangenen. Sie pflegt seine wunden Füße und heilt seinen Schmerz mit Musik. Doch dann, Jahre nachdem sie ein Paar und Eltern geworden sind, heißt es in einem der ausführlich dargebotenen barocken Lieder: „Die Freuden der Liebe / Sie währen nur einen Augenblick / Das Herzens Leid dafür ein Leben lang“. Iro wird sich von einer Klippe stürzen, Jon daraufhin zunehmend sein Augenlicht verlieren. Doch in „Music“ geht es weniger um Schuld und die Determination des Menschen nach dem ewigen Ratschluss der Götter, sondern um die heilende Kraft der Kunst angesichts einer leidvollen Existenz.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Music“.

Music
Deutschland, Frankreich, Griechenland, Serbien 2022 - 108 min.
Regie: Angela Schanelec - Drehbuch: Angela Schanelec - Produktion: Giorgos Karnavas, Konstantinos Kontovrakis - Bildgestaltung: Ivan Markovic - Montage: Angela Schanelec - Verleih: Grandfilm - FSK: ab 12 - Besetzung: Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer, Agyris Xafis, Marisha Triantafyllidou, Frida Tarana, Ninel Skrzypczyk, Miriam Jakob, Wolfgang Michael
Kinostart (D): 04.05.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt15547924/
Foto: © Grandfilm