Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber

(RU/DE/FR/CH 2021; Regie: Kirill Serebrennikow)

Deformierte Wirklichkeit

Ein Winterabend in der russischen Stadt Jekaterinburg. In einem Linienbus herrscht drangvolle Enge. Während sich eine korpulente, weihnachtlich verkleidete Schaffnerin mit blonden Zöpfen durch die Menge der verhärmten Fahrgäste schiebt und nach den Fahrscheinen verlangt, wird gezetert, geschimpft und gestritten. Unaufhörlich geht es gegeneinander und gegen andere, gegen eine unfähige Regierung und gegen die Fremden im Land. Inmitten der üblen Flüche und hitzigen Wortgefechte steht fiebernd, hustend und schwitzend der Titelheld aus Kirill Serebrennikows Film „Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber“, der wiederum auf einem Roman seines Landsmannes Alexei Salnikow basiert. Dann wird der schweigsame Petrow (Semjon Sersin) plötzlich von zwei Schergen des Inlandsgeheimdienstes FSB aus dem Bus gezogen und zu einem Erschießungskommando abkommandiert, an dem er willenlos und wie im Wahn teilnimmt. Die Opfer des nicht näher erläuterten Massakers wirken auffällig vornehm und sind gut gekleidet.

Kirill Serebrennikow, der auch als Theater- und Opernregisseur bekannt ist, filmt diese Szenen und den Schauplatzwechsel in einer langen, fließenden Plansequenz, sodass der Zuschauer nicht gleich erkennt, dass sich hier Realität und Fiebertraum ohne filmische Schnitte vermischen. Dieses ästhetische Prinzip bestimmt auch im Folgenden den zweieinhalbstündigen Film, der in einer Art delirierenden Revue ein ebenso groteskes wie hartes Bild der russischen Gesellschaft zeichnet. Dabei wechselt er oft ununterscheidbar zwischen Realität und diversen Visionen, zwischen einer schwarzweißen Vergangenheit und einer farbigen Gegenwart. Zwischen den brutalen Gewaltausbrüchen und den Tötungsphantasien von Petrows Frau (Tschulpan Chamatowa) wiederum scheint noch eine dünne, trennende Realitätsgrenze zu verlaufen. Aber kann sich der Held, der seine nächtliche Fahrt im Leichenwagen seines besoffenen Kumpels Igor (Juri Kolokolnikow) fortsetzt, sicher sein, dass er einem erfolglos schriftstellernden Freund nicht tatsächlich beim Suizid geholfen hat?

Eben war Petrow nämlich noch eine homosexuelle Figur aus einer Erzählung des Schriftstellers. Und er selbst zeichnet Comics, in denen er seine Erlebnisse verarbeitet. Während sein ebenfalls erkrankter kleiner Sohn trotz hohen Fiebers an einem bizarren Neujahrsfest mit der Schneejungfrau teilnehmen möchte, bewegt sich der schonungslos überdrehte Film, der fest in Kälte und Dunkelheit, Chaos und Anarchie verankert ist, immer tiefer hinein in einen nicht endenden Alptraum. Einmal heißt es in einem Lied mit sarkastischem Unterton: „Oh wunderbares Leben, lehre mich heller zu brennen.“ Dass in den Wirren aus Suff und Fieber irgendwann eine Schwangerschaft zur Disposition steht, korrespondiert gewissermaßen mit jener „auferstandenen“ und danach verschwundenen Leiche, die am Ende durchnässt einen Bus besteigt. Offensichtlich gibt es in „Petrov’s Flu“ keinen Ausweg aus dem surreal-wahnhaften Kreislauf einer absurd deformierten, moralisch verkommenen Wirklichkeit.

Petrov's flu
(Petrovy v grippe)
Russland, Deutschland, Frankreich, Schweiz 2021 - 145 min.
Regie: Kirill Serebrennikow - Drehbuch: Kirill Serebrennikow - Produktion: Pavel Burya, Murad Osmann, Ilya Stewart - Bildgestaltung: Vladislav Opelyants - Montage: Yuriy Karikh - Musik: Boris Voyt - Verleih: Farbfilm - FSK: ab 12 - Besetzung: Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Yulia Peresild, Yuri Kolokolnikov, Yuriy Borisov, Ivan Dorn, Aleksandr Ilyin
Kinostart (D): 26.01.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt10380900/
Foto: © Farbfilm