Unruh

(CH 2022; Regie: Cyril Schäublin)

Aufstand gegen die Fiktionen der Zeit

Die erzählerische, filmsyntaktische und bildkompositorische Nebenordnung bestimmt diesen ästhetisch eigenwilligen Film, der gegen alle möglichen Hierarchien und Eindeutigkeiten arbeitet beziehungsweise gemacht ist. Was in den gestaffelten Bildern von Cyril Schäublins vielgelobtem Film „Unruh“ geschieht, negiert alles Dramatische zugunsten von Pluralität, Vielstimmigkeit und Mehrsprachigkeit. Was in ihnen an Figuren, Dingen und Begebenheiten arrangiert ist, flieht alles Zentrale. Das kann irritieren und die Identifikation erschweren. Denn währen der Raum dieser statischen Tableaux vivants die Bilder dominiert, rücken die Handelnden an ihre Ränder, von wo aus die Dialoge wie ein konstantes, fast beiläufiges Gemurmel in den Vordergrund drängen. Die Ordnung der Bilder und Töne folgt hier also einer eigenen Logik und erzeugt dadurch eine Wirklichkeit, die einen Kontrapunkt setzt zur vorgeblichen Realität des historischen Stoffes. Nur die Details der Uhrmacherarbeit, die oft in Großaufnahmen gezeigt wird, scheint in ihrer dokumentarischen Qualität dieses Konzept zu kontrastieren.

Angesiedelt im Jahr 1877 in einem Tal des Schweizer Jura, wo die Uhrmacher-Manufakturen aufblühen, beleuchtet Cyril Schäublin in Streiflichtern und nur scheinbar fast absichtslos das damit einhergehende Erstarken der anarchistischen Bewegung. Der organisierte und komponierte Anarchismus der parataktischen filmischen Form hat also eine inhaltliche Entsprechung. Der russische Geograph Pjotr Kropotkin (Alexei Evstratov) trifft in Saint-Imier ein, um eine „anarchistische Karte“ zu erstellen und wird dabei vom antiautoritären Geist der ausgebeuteten, überwiegend weiblichen Arbeiterschaft inspiriert. Dabei lernt er als eher stiller Beobachter auch die junge Anarchistin Josephine Gräbli (Clara Gostynski) kennen, die als sogenannte „Regleuse“ bei ihrer feinmechanischen Arbeit für die titelgebende Unruh, das Herzstück der Uhr und damit für ihr Schwingsystem, verantwortlich ist. Woraus sich wiederum eine schöne Doppeldeutigkeit und Korrespondenz zu den konspirativen Umtrieben der anarchistischen Bewegung ergibt.

Nach seinem Debüt „Dene wos guet geit“ (2017) interessiert sich der Schweizer Regisseur in seinem zweiten Langfilm allerdings nicht für zwischenmenschliche Beziehungen, ihre daraus resultierenden möglichen Konflikte oder dramatische Handlungsverläufe, sondern vielmehr für die kapitalistischen Mythen und Fiktionen, die den Zusammenhang von Arbeit und Zeit bis in die aktuelle Gegenwart bestimmen. So zeigt sein Film, wie Arbeitsleistung kontrolliert, gemessen, in der Folge Produktion gesteigert und jeweils in eine zahlenmäßige Relation zur Entlohnung gesetzt wird. Die dadurch ermöglichte Abtragung von Steuerschulden korreliert wiederum mit der Berechtigung, an Wahlen teilzunehmen. Geschäfte, die sich angeblich aus ihrer Beziehung zur Zeit herleiten (beispielsweise die aufkommende Photographie) und ein Patriotismus, der sich auf markante Daten der Geschichte (hier die Schlacht bei Murten) beruft, sind weitere Aspekte der Zeitmessung, ihrer Synchronisierung und politischen Instrumentalisierung. Dagegen opponieren mit stiller Beharrlichkeit, Solidarität und ganz unaufgeregter, nahezu unmerklicher Verweigerung die Anarchisten.

Unruh
(Unrueh)
Schweiz 2022 - 93 min.
Regie: Cyril Schäublin - Drehbuch: Cyril Schäublin - Produktion: Linda Vogel, Michela Pini - Bildgestaltung: Silvan Hillmann - Montage: Cyril Schäublin - Musik: Li Tavor - Verleih: Grandfilm - FSK: ab 6 - Besetzung: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, Alice-Marie Humbert, Esther Flückiger, Alisa Miloglyadova, Elisaveta Kriman, Olga Bushkova
Kinostart (D): 05.01.2023

DVD-Starttermin (D): 07.07.2023

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt11409736/
Foto: © Grandfilm