Comic-Verlage lieben Biografien. Meistens geht es in ihnen um berühmte Männer, seltener um berühmte Frauen, und oft lesen sie sich eher zäh: Hat man doch wenig mehr zu erwarten, als dass brav Lebensstationen ins Bild gesetzt werden. Noch beliebter sind bei Verlagen autobiografische Comics. Sie gelten ja als so herrlich authentisch – dennoch sehnt man sich bei der zwanzigsten sensiblen Coming-of-Age-Story mitunter nach einem knalligen Superhelden-Abenteuer.
Mit „Der Mann, der vom Sirius kam“ hat sich der Schriftsteller und Filmemacher Thomas von Steinaecker – in den Kinos lief kürzlich sein Werner-Herzog-Porträt „Radical Dreamer“ – also sehr viel vorgenommen: die Verbindung zweier nicht unproblematischer Comic-Formen. Denn einerseits schildert er das Leben Karlheinz Stockhausens von dessen Kindheit bis in die 1970er, andererseits erzählt Steinacker parallel von der extremen Faszination, die das Werk des 1928 geborenen Avantgarde-Komponisten auf ihn, seit er zwölf Jahre alt war, ausgeübt hat. Das Ergebnis ist ein Band von nahezu 400 Seiten, monumental in seinem Anspruch, aber durchweg gelungen – ein besserer deutschsprachiger Comic wird 2022 nicht erscheinen.
„Der Mann, der vom Sirius kam“ setzt im Sommer 1989 ein. Die Familie Steinaecker lebt in Viechtach, tief in der bayerischen Provinz. Abwechslung in deren gähnender Langeweile bieten Thomas nur Bücher, Filme und Musik. Mit seinem Bruder nimmt er Popsongs im Rundfunk auf; die Eltern versorgen ihn mit Kunstmusik-LPs. Als ihm der Vater den „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“ in die Hand drückt, ist dies ein Erweckungserlebnis: Zum Unverständnis seiner gleichaltrigen Umwelt kann Thomas von diesen Klängen nicht genug kriegen. Als er beginnt, eine Biografie Stockhausens zu lesen, blendet der Comic in dessen Leben über.
Stockhausen wächst während des „Dritten Reichs“ auf. Sein Vater ist Lehrer und Nazi, ein Musterbild des autoritären Charakters. Die psychisch kranke Mutter wird 1941 in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Hadamar ermordet. Auf traumatische Erfahrungen als minderjähriger Sanitäter in der Endphase des Zweiten Weltkrieges folgt ein Musikstudium in Köln und Paris. Den großen Durchbruch bringt 1956 die zugleich bejubelte und ausgebuhte Uraufführung der „Jünglinge“; daran schließt sich eine internationale Karriere an, die Stockhausen in viele Länder führt.
Die Schattenseiten Stockhausens und seines Kunstverständnisses verschweigt der Comic nicht. Der Komponist, der sich gerne als Außerirdischer imaginierte, war von einer ungehemmten Egozentrik, unter der seine privaten Beziehungen leiden mussten. Er sah sich als eine Art Messias, der mit seiner Musik sowohl „die göttliche Ordnung widerspiegeln“ als auch eine „bessere Gesellschaft hervorbringen“ wollte. In seinem zwanghaft radikaler Innovation verpflichteten Großkünstlertum, das ihn schließlich die 9/11-Anschläge als geniales „Konzert“ preisen ließ – ein Skandal, der hier noch nicht vorkommt –, ist Stockhausen heute eine historische Figur.
Diskret, aber ohne Scheu macht Steinaecker im Wechsel von biografischen und autobiografischen Passagen zudem deutlich, woher seine Stockhausen-Verehrung als junger Mensch rührte. Sie war nicht nur, wie in den von ihm geliebten Science-Fiction-Filmen, eine Evasion in eine andere, aufregende Welt, sondern auch motiviert von der wohl nicht allzu großen Aufmerksamkeit, die ihm sein Vater entgegenbrachte. Dieser erscheint im Comic als in seinem bürgerlichen Beruf übermäßig eingespannt und wenig glücklich; zu Hause verschanzt er sich regelmäßig hinter der Süddeutschen Zeitung. Dass unter dieser Voraussetzung Stockhausen für Steinaecker Züge eines Ersatzvaters hatte, wird nirgendwo ausgesprochen, ist jedoch evident.
Ein Ereignis ist „Der Mann vom Sirius“ auch aufgrund der Zeichnungen, die David von Bassewitz am Computer gemalt hat. Im Vergleich zu „Vasmers Bruder“ (2014), seinem bislang einzigen anderen Comic, hat Bassewitz seinen Stil radikal verändert. Flirtete er in seinem Debüt mit dem Fotorealismus, sind seine Bilder nun von einer skizzen- und aquarellhaften Lockerheit. Auf eine Rahmung der Panels verzichtet er ebenso wie auf deren traditionelle Reihung. Ungeheuer stark sind die überwiegend in Grau und Braun gehaltenen Szenen aus Stockhausens Jugend, die NS-Mief und -Brutalität, ohne auf visuelle Klischees zurückzugreifen, bedrückend vergegenwärtigen.
Nicht weniger als sieben Jahre haben Steinaecker und Bassewitz für die Arbeit an „Der Mann vom Sirius“ gebraucht. Mit dem zweiten, abschließenden Band hoffen sie schneller, in vier Jahren, fertig zu werden. Dass man sich so sehr auf eine Fortsetzung freut, kommt nicht oft vor.
Dieser Text erschien zuerst am 25.10.2022 in der taz.