„Es ist nicht meine Aufgabe, die Dinge so darzustellen, wie sie sind“, lässt Joann Sfar in seiner Comicreihe „Die Katze des Rabbiners“ einen an Marc Chagall angelehnten jüdischen Maler sein künstlerisches Konzept auf den Punkt bringen. Ein Konzept, das für den fiktiven Chagall ebenso wie für den 1971 in Nizza geborenen Comiczeichner gilt: Nicht die Welt, wie sie ist, bildet er ab, sondern eine Welt, wie sie sein könnte. In dieser Welt kann eine sprechende Katze darauf bestehen, ihre Bar Mitzvah zu feiern und sich mit dem Rabbi über religiöse und philosophische Fragen streiten. In anderen Geschichten von Sfar tritt ein debiler Golem auf, hat eine verführerische Madragore Liebeskummer, hadert ein sensibler Vampir mit seinem Schicksal und verbünden sich jüdische Gangster mit einer Klezmer-Band gegen die ihnen feindlich gesinnte Umgebung. Die Protagonisten von Sfar, der zunächst Philosophie und danach Kunst studiert und in nur wenigen Jahren ein kaum mehr überschaubares Werk veröffentlicht hat, sind allesamt Außenseiter, beladen mit Komplexen und Problemen, Ängsten und Hoffnungen, sie suchen Liebe, Freundschaft und Geborgenheit in einer feindlichen Welt.
Über all diesen Figuren jedoch thront die Katze des Rabbiners, die Reihe begründete Sfars Ruf, einer der innovativsten französischen Comiczeichner seiner Generation zu sein – und einer der erfolgreichsten: Die Alben haben sich in Frankreich weit über eine Million Mal verkauft und auch die von Sfar selber realisierte Kinoversion fand ein großes Publikum. In Deutschland ist Sfars Werk noch zu entdecken, das sich durch alle Genres und Stile bewegt: zwischen fantastischer Literatur und Philosophie, Geschichts-Comic und surrealen Welten, Kinder-Comics und Vampirgeschichten, Aquarelltönen und kargem Schwarz-Weiß, mit schnellen Strichen gezeichneten Seiten und detailreichen Porträts.
Die jüdisch-algerische Lebenswelt der „Katze des Rabbiners“ in den 1920er-Jahren ist geprägt von Gesprächen über das Wort Gottes und die Erschaffung der Welt, Wissenschaft und Religion, Rassismus und Zionismus. Das sephardische Judentum Algeriens war zu Beginn des 20. Jahrhundert geprägt von der Nachbarschaft zur arabischen Welt und der Auseinandersetzung mit dem jüdisch-französischen Einfluss in der nordafrikanischen Kolonie. Algerische Juden besaßen die französische Staatsbürgerschaft und konnten in den urbanen Zentren ein weitgehend freies religiöses Leben führen, allen antisemitischen Anfeindungen zum Trotz. Erst 1940, durch die deutsche Besetzung Frankreichs, verloren sie unter dem Vichy-Regime ihren sicheren Status und waren Ausgrenzungen und Enteignungen ausgesetzt. Den prekären Status algerischer Juden deutet Sfar mehrfach an, wenn etwa der Rabbi in einem Café aufgrund seiner Religionszugehörigkeit nicht bedient wird oder die Suche nach einem Jerusalem in der Wüste als Zufluchtsort eine immer größere Bedeutung annimmt. Dennoch bot Algerien Juden im frühen 20. Jahrhundert ein Umfeld für philosophische Zerstreuung. Als brutales Spiegelbild der „Katze des Rabbiners“ hat Sfar die im Zarenreich zur Jahrhundertwende angesiedelte Reihe „Klezmer“ geschaffen. Beide Reihen bilden auch die Erfahrungswelt des Künstlers selbst ab, dessen Familie einerseits aus Nordafrika und andererseits aus der heutigen Ukraine stammt. In „Die Katze des Rabbiners“ treffen die beiden Welten aufeinander: Einer der Protagonisten aus der „Klezmer“-Reihe hat im soeben erschienenen vierten Sammelband der „Katze des Rabbiners“ einen Gastauftritt.
„Die Juden ließen sich derart lange beißen, verfolgen und anbellen, dass sie letztendlich die Katzen den Hunden vorzogen“, weiß die Katze des Rabbiners. Und auch der aktuelle Band ist wieder geprägt von diesem unsicheren Status des jüdischen Lebens, von den Projektionen und Ausgrenzungen, mit denen Juden trotz ihres sicheren juristischen Status zu leben hatten. Der vorliegende Band bündelt zwei in Frankreich als Einzelbände erschienene Episoden, eine blickt zurück auf die Anfänge der sprechenden Katze, auf das Leben ihrer Besitzerin, der Rabbinertochter Zlabya und deren Emanzipation vom Vater. In der zweiten Geschichte „Geht zurück nach Hause!“ werden ganz explizit die Anfeindungen gegenüber den algerischen Juden thematisiert und deren Suche nach einem Ort ohne diskriminierende Zuschreibungen.
Das Heilige Land, so hoffen sie, könnte ein solcher Ort sein, doch bleibt diese Hoffnung in den 1920er-Jahren noch eine reine Imagination. Verschiedene Figuren erzählen von ihren Erlebnissen in Palästina, letztlich entscheiden sie sich, Algerien noch eine Chance zu geben, ein Nebeneinander der Religionen zu leben. In dem Zusammenprall der Kulturen, dem fruchtbaren Streit und in gemeinsamen Feiern verwirklicht sich die Utopie eines anderen Miteinanders, in dem sich aus den unterschiedlichen Stimmen eine gemeinsame erhebt: die Stimme der Mitmenschlichkeit. Joann Sfars Utopie hofft darauf, dass jüdische Stimmen in der Kunst eine Sprache praktizieren, die nicht nur von Juden verstanden wird. Der Künstler selbst arbeitet, wie er einmal erklärte, mit jedem seiner Werke an der Verwirklichung eben dieser Utopie.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 20.10.2022 in: ND