Alle reden übers Wetter

(D 2022; Regie: Annika Pinske)

Zwischen allen Stühlen

Clara (Anne Schäfer) ist eine Frau unter Einfluss. Die erste Einstellung zeigt die knapp 40-jährige Philosophie-Dozentin aus der Distanz beim Blick in einen Badezimmerspiegel, gerahmt von einer Tür. Die Konfrontation mit der eigenen Identität, das Ringen um weibliche Selbstbestimmung sowie die Auseinandersetzung mit einengenden Verhältnissen sind entsprechend die Themen von Annika Pinskes ambitioniertem Spielfilmdebüt „Alle reden übers Wetter“. Nicht umsonst beschäftigt sich die gestresste Doktorandin in ihrer Promotion mit Hegels Freiheitsbegriff; und in ihrem Utilitarismus-Seminar diskutiert sie mit ihren Studierenden Roy Lichtensteins Bild „Drowning Girl“. Immer unter Zeitdruck und permanent angespannt, führt Clara eine Art Doppelleben: Sie schläft mit einem Studenten, der mehr von ihr will als sie von ihm; sie wohnt in einer WG, während ihre 15-jährige Tochter Emma bei der Familie ihres Ex-Mannes lebt; vor allem aber ist sie darauf bedacht, im Akademikermilieu ihre soziale Herkunft zu verbergen.

Sehr genau beobachtet Annika Pinske gesellschaftliche Konventionen, soziale Verhaltensweisen und das Spiel mit Codes. Besonders deutlich wird das, wenn sie nach der ersten Hälfte des Films radikal den Schauplatz wechselt und das Berliner Bildungsbürgertum gegen Claras Herkunftsmilieu in der Mecklenburg-Vorpommerschen Provinz tauscht. Dorthin fährt die Protagonistin anlässlich des 60. Geburtstages ihrer Mutter Inge (Anne-Kathrin Gummich) und erlebt sich einmal mehr zwischen allen Stühlen. Die Kontraste zwischen dem bildungsfernen Milieu und ihrer akademischen Karriere, zwischen familiärer Verbundenheit und dem Anspruch auf ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben könnten kaum größer sein. Dazu kommt noch, dass Clara in ihrer Heimat auch von einem Teil ihrer Vergangenheit eingeholt wird.

„Niemand wird so wieder werden, so wie er mal war zuvor“, wird gleich eingangs ein Song der ostdeutschen Band Puhdys zitiert. In Claras unsicherer Identität, die sich nach allen Seiten abgrenzen und definieren muss, spiegelt sich schließlich auch das schwierige, von Vorurteilen umstelle Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen. In ihren gesellschaftlichen Rollen steht die innerlich zerrissene Heldin unter einem permanenten Anpassungsdruck. Sorgsam und nachvollziehbar vermittelt Anne Schäfer diesen Spagat zwischen Nähe und Distanz, Zugehörigkeit und Abgrenzung sowie die vielen Facetten, in denen Einsamkeit und Sprachlosigkeit dominieren. Wenn Clara gegen Ende des sehr sehenswerten, realistisch erzählten Films sagt, sie wolle sich nicht mehr erheben müssen, drückt das schließlich ein Einverständnis mit ihrer widersprüchlichen Identität und eine gewisse Versöhnung der Gegensätze aus.

Alle reden übers Wetter
Deutschland 2022 - 89 min.
Regie: Annika Pinske - Drehbuch: Annika Pinske - Produktion: Luise Hauschild, Annika Pinske - Bildgestaltung: Ben Bernhard - Montage: Laura Lauzemis - Verleih: Grandfilm - FSK: ab 12 - Besetzung: Anne Schäfer, Anne-Kathrin Gummich, Judith Hofmann, Marcel Kohler, Max Riemelt, Emma Frieda Brüggler, Sandra Hüller
Kinostart (D): 15.09.2022

IMDB-Link: https://www.imdb.com/title/tt10779254/
Foto: © Grandfilm