„Aufzeichnungen aus Jerusalem“ von Guy Delisle – das ist die Comicreportage, die sich in Deutschland mit am besten verkauft. Den Preis für das beste internationale Album beim Comic-Salon in Erlangen erhielt 2012 Joe Sacco für seine nicht unumstrittene israelkritische Recherche „Gaza“. Und auch deutsche Zeichnerinnen und Zeichner machen sich inzwischen gerne auf, um mit dem Stift in der Hand die Welt, in der wir leben, zu erkunden. Kurz gesagt: Comicreportagen sind in. Im Bereich jenseits des Mainstreams sind sie möglicherweise dabei, der Autobiografie den Rang als beliebteste Ausdrucksform abzulaufen.
Aber sind sie nicht zugleich ein nostalgisches, ein heillos anachronistisches Unternehmen? Bilder von fast allem, was geschieht, sei es schön oder schrecklich, stehen uns heute innerhalb kürzester Zeit zur Verfügung. Bis eine Comicreportage, erst recht größeren Umfangs, fertiggestellt ist, vergehen dagegen gerne einige Monate. Und tut sich das gezeichnete Bild nicht schwer, im Betrachter eine so große Wirkung zu erzeugen wie Fotos oder Filme?
Nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Gerade angesichts der Bilderflut – und das heißt auch: der Flut an schlechten und falschen Bildern –, die über uns hereinbricht, gewinnt das gezeichnete Bild wieder an Bedeutung. Weil es keine Unmittelbarkeit vorgaukelt, sondern immer als reflektiert und komponiert identifizierbar ist, besitzt es eine Intensität, die der schnelleren Konkurrenz oft verloren gegangen ist. Auch die Zeitverzögerung muss ja nicht unbedingt ein Nachteil sein, erlaubt sie doch eine größere Gründlichkeit als in den dem Tag verpflichteten Medien.
Genau diese Vorzüge finden sich auch in den „Berichten aus Russland“, die der italienische Comic-Künstler Igort vorlegt. Es handelt sich um den zweiten Teil eines Diptychons, das früheren Staaten der Sowjetunion gewidmet ist. In den „Berichten aus der Ukraine“, bei uns 2011 erschienen, kontrastiert Igort Eindrücke vom aktuellen Leben vor Ort mit den Biografien mehrerer alter Ukrainerinnen und Ukrainer. Die „Berichte aus Russland“ tragen den Untertitel „Der vergessene Krieg im Kaukasus“. Sie erinnern an den Zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) und an die 2006 ermordete Journalistin Anna Politkowskaja.
Igort geht es nicht darum, das Leben Politkowskajas oder die Geschichte des schmutzigen Krieges im Kaukasus systematisch und vollständig darzustellen. Er setzt Schlaglichter, arbeitet in assoziativer Verknüpfung bestimmte Aspekte heraus. Wichtig sind ihm der ungewöhnliche Mut, aber auch die offenbar stets unerschütterliche Sanftheit Politkowskajas. Im Interview mit Igort hebt die französische Übersetzerin der Journalistin hervor, dass diese, wenn sie mörderischen Menschenrechtsverletzern begegnet sei, zugleich als „Anklägerin und Verteidigerin“ gehandelt habe: „Ihr Mitleid für die Täter ist oft deutlich zu spüren. Mitleid, weil diese Menschen traurige Schicksale haben, weil sie gebrochen und verzweifelt sind.“
Zugleich dokumentiert Igort, oft unter Angabe der Quelle, aus der seine Informationen stammen, die Schandtaten, die in Tschetschenien, vor allem von den berüchtigten russischen Spezialeinheiten, begangen wurden. Tschetscheninnen und Tschetschenen kommen zu Wort, erzählen von Vergewaltigung, Folter und Mord, von endlosem Erfindungsreichtum, was physische und psychische Grausamkeit angeht. Aber auch ein russischer Soldat tritt auf, ein Patriot und Idealist, der unbekümmert in den fernen Krieg zieht und zerbricht, als man ihn zwingt, einen Jungen, der fast noch ein Kind ist, zu erschießen.
„Berichte aus Russland“ ist ein Comic, der einem Tränen der Wut in die Augen treibt, und mehr als einmal ist man versucht, den Blick abzuwenden. Aber man hält dann doch durch. Nicht etwa weil Igort das Grauen, die Schlächterei ästhetisiert oder zu einem Spektakel macht. Sondern weil ihm etwas Unglaubliches gelingt: den Opfern, durch die Art, wie er sie zeichnet, die Würde zurückzugeben, die ihnen mit brachialer Gewalt genommen werden sollte.
Dieser Text erschien zuerst am 24.11.2012 in der taz.