Sie habe immer gezeichnet, sagt die alte Kyona mit der einfühlsamen Stimme von Hanna Schygulla aus dem Off. Während in der Rahmenhandlung von Florence Miailhes melancholischem Animationsfilm „Die Odyssee“ („La traversée“) die Blätter ihres Skizzen- und Malheftes wie von magischer Hand umgeschlagen werden, erinnert sie sich an die Stationen ihres bewegten Jugendlebens. Aus den gemalten Bildern als Träger vergangener Erlebnisse erstehen so die einzelnen Kapitel einer dramatischen Fluchtgeschichte. Diese beginnt, in der Folge von zahlreichen Märchenmotiven durchwirkt, in einem kleinen Dorf eines fernen Landes, wo die junge Kyona zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern lebt. Das mutige Mädchen ist am liebsten mit ihrem jüngeren Bruder Adriel unterwegs. Mit ihm durchstreift sie die nähere Umgebung des Dorfes und erklettert Kirschbäume.
Aus der Perspektive eines solchen Baumes erleben sie ihren ersten großen Schock. Eben zeichnet Kyona noch die ferne Silhouette ihres Heimatdorfes in ihr Heft mit dem blauen Umschlag, als plötzlich die bunte, farbenfrohe Welt in schwarze Rauchwolken gehüllt wird. Maskierte und damit gesichtslose, hasserfüllte Männer einer marodierenden Bande überfallen das Dorf, brandschatzen es und vertreiben seine Bewohner*innen. Auch Kyonas drangsalierte Familie begibt sich überstürzt auf die Flucht, während über den Köpfen der Fliehenden eine dunkle Rabenschar den Himmel fast zu einer Nacht verdunkelt. Von überall her scheinen die Menschen zu fliehen und „alle haben ihre Gründe“, wie es einmal heißt. Die permanente, nahezu apokalyptische Bedrohung derjenigen, die ihre Heimat verloren haben und täglich neuen Gefahren ausgesetzt sind, bestimmt dann auch Kyonas weiteren Weg, als sie und Adriel brutal von ihrer Familie getrennt werden und im weiteren Verlauf ihrer Odyssee allein auf sich gestellt sind.
Florence Miailhe erzählt in ihrem aufwändig gestalteten Film, der von Erinnerungen ihrer einst aus Odessa vor antisemitischen Pogromen geflohenen Großmutter inspiriert wurde, eine aktuelle, zeitlose und universelle Geschichte. Zusammen mit verschiedenen internationalen Teams aus Zeichner*innen hat sie dafür Bilder animiert, die direkt unter der Kamera mit Öl auf Glasplatten gemalt wurden. Diese mit breitem Strich und sanft verspielten Tupfern aufgetragenen Malereien bestechen vor allem durch eine intensiv leuchtende Farbigkeit, die alles Dunkle und Graue illuminiert und über alle schrecklichen und schmerzhaften Erfahrungen triumphiert. Beseelt von einer märchenhaften Phantasie, verbindet die renommierte französische Animationskünstlerin die Erzählung über die Wechselfälle einer gefahrvollen Flucht zugleich mit einer Coming-of-Age-Geschichte.
„Die Geflüchteten verließen sich auf ihr Glück“, heißt es einmal. Getrennt von ihren Eltern, landen die unzertrennlichen Geschwister zunächst in einer fremden Stadt, wo sie sich der Straßenkinderbande des cleveren Iskender anschließen. Doch auch der Anführer der „Raben“, der sich außerdem in Kyona verliebt, kann nicht verhindern, dass die Geschwister vom skrupellosen Menschenhändler Jon an ein reiches Ehepaar verkauft werden. Von hier aus führt sie die Flucht, als wären sie Hänsel und Gretel, schließlich durch einen unheimlichen winterlichen Wald, in dem sie sich durch einen Schneesturm verlieren. Gerettet von einer alten, guten Hexe, findet Kyona ihren Bruder im beginnenden Frühjahr wieder bei einer fahrenden Zirkustruppe. Eine freundliche Elster wird dabei zur treuen Begleiterin des nunmehr erwachsenen Mädchens.
Doch die Flucht, die voller Abschiede ist und auf der Kyona immer wieder Menschen verliert („Mein Herz war zu einem Sieb geworden.“), ihnen auf wundersame Weise aber manchmal auch wiederbegegnet, ist hier noch nicht zu Ende. Bevor sie zusammen mit Adriel in ein Internierungslager gesteckt wird und schließlich kurz darauf die letzte Grenze in eine ungewisse Zukunft überschreitet, gibt ihr die „Madame“ genannte Zirkusvorsteherin eine Erkenntnis mit auf den Weg: „Nichts ist nur schwarz oder weiß. Das Leben ist grau. Wenn du durchkommen willst, musst du lernen, die Grautöne zu sehen.“