Im Roman, der 2011 erschien, ist es ein Geliebter. Im Film, der 2021 in Cannes seine Premiere hatte, ist es eine Geliebte. Im Roman schweigt die Protagonistin ausgiebig, im Film spricht sie schließlich doch immer wieder. Es ist wie so oft: Die beiden Kulturerzeugnisse haben zwar denselben Titel, „Abteil Nr. 6“, und die Verfilmung bezieht sich auch tatsächlich auf das Buch. Doch folgen beide Werke jeweils einem ganz anderen Rhythmus und erzählen unterschiedliche Geschichten. Die Leinwandadaption von Rosa Liksoms Roman „Abteil Nr. 6“ wird mal als Drama und Komödie beschrieben, mal unter Road Movie oder Romanze einsortiert. Und irgendwie trifft alles zu – nur „Road“ ist falsch. Denn während die Figuren in einem Road Movie mit Hilfe eines Autos irgendeiner Art von Freiheit entgegenrollen, rattert hier der Zug: In ihm zu reisen ist weder beglückend noch befreiend, vielmehr geht es eng und unbequem zu, bisweilen ist es dröge, doch immer wieder findet sich Zeit zur Kontemplation. Eine lange Zugreise ist fürs Individuum immer zugleich eine Reise ins Innere. Das gilt natürlich nicht für saufende Fußballfans oder sandwichessende Familien, die vor lauter Mampf die Maskenpflicht vergessen: Nur wer allein fährt, wird auf sich selbst zurückgeworfen, muss mit sich und den eigenen Gedanken vorliebnehmen. Das ist freilich ein Zustand, dem der infantile Mensch in einer westlichen Gesellschaft, in der man zwischen einem Agenturtrottel-Arbeitsplatz, einer meist heterosexuellen Pärchenmatrix und einem verblödeten Freundeskreis voller Angeber und Schnittchen vor sich hin existiert, kaum gewachsen ist.
In Juho Kuosmanens Film geht es zum Glück nicht so zu: Da sitzt mit Laura (Seidi Haarla) eine junge, schwärmerische Intellektuelle im Zug, mit dem Rücken in Fahrtrichtung. Die in Moskau lebende finnische Archäologiestudentin will die Petroglyphen nahe der Hafenstadt Murmansk sehen und tuckert daher nach Norden. Eine lange Reise, die viel Einsamkeit und Melancholie verspricht. Denn ihre ältere Geliebte, eine Wissenschaftlerin mit dem nahezu perfekten Leben der urbanen Bohemienne, kann nicht mit ihr kommen. Und diese Geliebte, so stellt sich im Lauf der Zeit heraus, bereut das kein bisschen. Die reisende, sich aber im Herzen zurückgelassen fühlende Laura wiederum ist kein Filmschnittchen: weder kulleräugige Zuckerschnute noch perfekt gestylte Kämpferin, weder verhärmte Sozialdrama-Trutschn (bairisch für: beschränkte, unattraktive Frau) noch nostalgisch aufgedonnerte Diva oder – die in deutschen Filmen gern auftauchende – kesse Göre. Wie sie da abwartend und leicht betrübt, neugierig und genervt zugleich auf ihrer Sitzbank hockt, versinnbildlicht sie den Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit eines jeden Menschen: zerrissen zwischen Individualität und Gesellschaft. Sie fährt in die Kälte und trauert zugleich der Stadt hinterher. Nichts stimmt, nichts ist perfekt. Schon gar nicht der Mann, der ihr gegenübersitzt.
Es ist selten, dass eine Frau im Film eine Idee verkörpert, die nicht sexistisch ist und sie nicht zur Mutter, zur Gattin oder zu irgendeinem anderen Männeranhängsel macht. Laura durchlebt auf ihrer Reise verschiedene Formen der Einsamkeit. Doch steht ihre Einsamkeit nicht für die Einsamkeit der Frau, sondern für die eines Menschen, ja des Menschseins an sich (das normalerweise stets mit dem Mann assoziiert wird). Hier ist es erst einmal die männliche Figur, die in ihrem sozialen Geschlecht gefangen ist. Zwischen der Dunkelheit, dem flauen Tageslicht des russischen Winters und dem Schein der Glühbirne des Abteils kann der Mann zunächst seinem Muster nicht entfliehen: Der junge Bergarbeiter Ljoha (Yuriy Borisov) benimmt sich schon kurz nach der Abfahrt wie der Alptraum einer jeden allein reisenden Frau: Er sexualisiert sie, palavert im Rausch über die weiblichen Geschlechtsteile, so wie man eben darüber spricht, wenn man außer der patriarchal geprägten Verachtung für alles weiblich Stilisierte nichts gelernt hat und sich eine freie Sexualität noch nicht einmal nach dem Genuss einer Flasche Wodka vorstellen kann.
Laura verfolgt zwar eine bürgerliche Unikarriere, hat aber die in diesem Milieu nicht selten gepflegte empört-bourgeoise Verachtungsattitüde nicht verinnerlicht. Das beweist sie spätestens, als sie trotz aller berechtigten Abscheu mit dem Mann gegenüber zu sprechen beginnt. Und siehe da: Ljoha besitzt eine soziale Ader.
Von Laura wiederum verlangt die Lage eine doppelte Form der Emanzipation: den Mut, all jenem Paroli zu bieten, was den Mann als Verfügenden und Gefangenen einer verstörenden Menschheitsgeschichte ausmacht, zugleich aber das Wagnis der Empathie einzugehen. Laura beginnt, Ljoha zuzuhören, und überwindet damit die Kluft zwischen dem vermeintlich höherwertigen Intellektuellen und dem, wie es der Bürger sieht, stinkenden Abschaum des Proletariats.
Neben dieser sozialpolitischen Ebene gibt es im Film noch eine existentielle: die der Einsamkeit. Einzig der Dichter darf sie genießen. Von Beginn an versucht die Kamera, dem Gefühl des Verlassenseins entgegenzuwirken und es gleichzeitig zu steigern. Ganz nah rückt sie an die Gesichter heran, so nah, dass ihre Bewegungen Schwindel, ja fast Übelkeit auslösen. Das gilt vor allem in jenen Szenen, in denen sich Laura noch in der vermeintlichen Wärme der Moskauer Intellektuellenszene bewegt: heiteres Beisammensein in dekorativen Altbauwohnungen. Das Gefühl, zu den Guten zu gehören, die Staat und Gesellschaft, Politik und Ökonomie verstanden haben. Den Selbstbetrug macht die Kamera schon sichtbar, als der Betrachter noch nicht einmal ahnt, wohin die Reise führen wird. Später werden die Bilder etwas ruhiger. Doch auch als der Film im Zug spielt, fängt er die Verlorenheit immer wieder ein: Da ist die genervte Schaffnerin, die im Lauf der Zeit von der Hexe zur Vertrauten wird. Da ist der ewig einsame, mit allen gleich anbandelnde Traveller. Seine Gitarre ist sein Kuscheltier, und obwohl er jedermenschs Freund ist, hält er die Leute niemals lange aus. Und selbst die kinderreiche Familie, die im Speisewagen einmal rund um Laura Platz nimmt, wirkt verloren und im Sumpf der Sippschaft gefangen. Trotz des Blicks auf die Tragik einer beschissenen Gesellschaft und des Menschseins an sich gelingt es diesem Film, all das hinter sich zu lassen und in wenigen Momenten eine Ahnung zu geben, was sein könnte, wenn nicht alles so wäre, wie es ist.
Diese Kritik erschien zuerst in: Konkret 04/2022