Die schwedische Bestsellerautorin und studierte Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist gehört weltweit zu den erfolgreichsten Comickünstlerinnen. Ihre Comicessays sind originäre Beiträge zur feministisch-soziologischen Theorie- und Kulturgeschichtsvermittlung.
In ihrer neuesten, mittlerweile fünften Veröffentlichung „Im Spiegelsaal“ geht es um das „Imperium der Bilder“ (Susan Bordo) unter den Bedingungen einer veränderten Öffentlichkeit im Social-Media-Zeitalter, in dem wir als Konsument*innen und Produzent*innen zugleich agieren. Mit viel Theorieprominenz im Gepäck seziert Strömquist kleine Gesten und Selbstverständlichkeiten des Alltags, an denen sich die neoliberale Zurichtung ablesen lässt.
Denn Isolation, Vereinzelung, Individualisierung sind beliebte Schlagworte im Regime der Selbstoptimierung. Wie kommt es, fragt Strömquist, dass der Anblick schöner Menschen stets mit Selbstzweifeln und einem Gefühl der Unvollkommenheit einhergeht? Weshalb bleibt es nicht bei „schierer Verzückung über die Schönheit der Schöpfung“? Sie lässt den Kulturanthropologen René Girard antreten: „Der Mensch begehrt, was andere Menschen begehren.“ Aber er „ist ein Wesen, das nicht weiß, was es begehrt“. Das führt zu mimetischer Rivalität. So erklärt zumindest Girard das Entstehen des Schlankheitsideals als Konkurrenzerzeugnis.
Auch im Wandel der Ehe steckt sie notgedrungen, die Notwendigkeit der Selbstinszenierung. Es hat, so Strömquist, „keine praktische Bedeutung oder Funktion mehr, sich mit jemandem zusammenzutun, außer dass man Liebe/sexuelle Anziehung füreinander empfindet. Und deshalb ist, wie hübsch/sexy/fuckable man ist, heute wichtiger, weil es quasi der einzige Grund für eine Beziehung ist.“ Ein Pfeife rauchender Zygmunt Bauman ergänzt: „Fragile zwischenmenschliche Bande sind charakteristisch für das fluide, moderne Leben. Daher ist es ein Leben (…) in nie endender Wachsamkeit.“
Ein weiterer Aspekt der Bedeutung des Aussehens ist die Kopplung von Konsumgesellschaft und Sexualität. Strömquist argumentiert mit der Soziologin Eva Illouz, dass sich die Sexualität seit den 1970ern „mit Hilfe eines breiten Konsumwarensortiments zu inszenieren“ habe. Die einst geforderte Keuschheit bedeutet kein Prestige mehr, und die Erfindung von Verhütungsmitteln macht diese Norm überflüssig, sodass sich die Sexualität selbst „zu einer neuen Art von Status und Kompetenz entwickelte“. Das korrespondiert mit der Allgegenwart visueller Medien im Spätkapitalismus. Strömquist schreibt, dass wir chronisch exhibitionistische und voyeuristische Beziehungen entwickelt haben, dirigiert von den Plattformen der Großkonzerne, auf denen eine Flut an mit Filtern überzogenen Fotos unser Selbst zur Schau gestellt wird und für Good Vibrations sorgen soll. „Optimierte Oberflächen ohne Negativität“, wie Strömquist den Philosophen Byung-Chul Han zitiert. Da kann man sich schnell nach der nächsten Epoche, einer besseren Idee sehnen, und freundlicherweise lässt Strömquist eine Seite frei, damit man die Idee aufschreiben kann.
Die starken Thesen lassen einen manchmal übersehen, dass sich hinter den minimalistischen Zeichnungen perfektes Handwerk verbirgt. Und schon die Veröffentlichung als Druckwerk kann in der Hegemonie des digitalen Schaufensters als kleiner subversiver Akt gelesen werden, wie Strömquist in einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Der Standard verrät: „Beim Lesen eines Comics kann niemand aufzeichnen, wie lange du ein Bild betrachtest, und dir dann eine Produktempfehlung schicken. Ich genieße es, eine politische Diskussion zu führen – ohne dass sie jemand kommentieren, teilen oder liken kann.“
Liv Strömquist: „Im Spiegelsaal“.
Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant-Verlag, Berlin 2021. 168 Seiten. 20 Euro