Zwischen dem 12. und 22. November findet das 69. Internationales Filmfestival Mannheim Heidelberg statt. Aufgrund der bundesweiten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung bietet das Festival auf der Online-Plattform expanded.iffmh.de das Programm im Stream an.
Hier geht es zum Festivalbericht und einigen Einzelkritiken.
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Die nackten Kinder der zweiten Generation
„Le deuxième souffle“, also „Der zweite Atem“, lautet der anspielungsreiche Titel der Retrospektive, mit der das 69. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg in diesem Jahr den Blick auf die französische Filmgeschichte, insbesondere auf Filme der Post-Nouvelle-Vague lenken möchte. Als „Kino des Umbruchs“ oder auch als ein „Kino des Danachs“ reflektieren diese Arbeiten den gesellschaftlichen und politischen Wandel nach den Pariser Mai-Unruhen von 1968. Sie sind aber nicht nur Reflex auf politische Zäsuren, sondern suchen mitunter auch im Filmästhetischen die Auseinandersetzung mit dem Mythos der Nouvelle Vague, der bis heute das Schaffen der nachfolgenden Generationen bestimmt und in der Rezeption überschattet.
Auf diese sogenannte „zweite Generation“ bezieht sich der Titel der neu programmierten Festival-Retrospektive, die zwölf Filme aus den Jahren zwischen 1968 und 1982 präsentiert. Dass mit dem Begriff mehr eine ästhetische Verortung gemeint ist, klingt sowohl an in seiner Referenz auf Jean-Luc Godards epochalen Film „À bout de souffle“ („Außer Atem“, 1959) als auch im direkten Zitat von Jean-Pierre Melvilles Gangsterfilm „Le deuxième souffle“ (1966). Schließlich gilt der französische Meisterregisseur, der übrigens auch einen kleinen, aber bezeichnenden Auftritt in Godards Spielfilmdebüt hat, als Vater der Nouvelle Vague.
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Jugendliche Außenseiter
Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass sich mehrere Filme der Auswahl mit Generationsfragen beschäftigen und dabei Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt stellen. Diese sind durchweg Außenseiter, die von der Gesellschaft vernachlässigt werden oder keinen Halt in ihr finden. So ist etwa Paul, der jugendliche Held in Gérard Blains neu zu entdeckendem Film „Un enfant dans la foule“ („Ein Kind in der Menge“) aus dem Jahre 1976, auf sich allein gestellt. Während des 2. Weltkrieges sucht er im besetzten Paris einen Weg durch ein ungeregeltes, von Gefahren umstelltes Leben. Der 1930 geborene, als rebellischer Schauspieler bekannt gewordene Blain verarbeitet in seinem ebenso schnörkellosen wie feinfühligen Film eigene Erlebeniss und bezieht sich dabei in seinem ästhetischen Rigorismus auf den französischen Solitär Robert Bresson.
Un enfant dans la foule; © Paul Blain
Mindestens genauso eigenwillig und nicht weniger entschieden hat Maurice Pialat 1968 sein spätes Filmdebüt „L’enfance nue“ („Nackte Kindheit“) mit Laiendarstellern an Originalschauplätzen in der Provinz inszeniert, um das ländliche Arbeitermilieu zu portraitieren. Darin wird der schwierige François, ein 10-jähriger Junge ohne Familie, von einer Pflegefamilie zur anderen gereicht, was Pialat mit einem insistierenden dokumentarischen Blick und einem existentiell schmerzlichen Unterton registriert.
Einen dokumentarisch-realistischen Ansatz, teils mit Laienschauspielern verwirklicht, verfolgt auch der 1944 geborene Jacques Doillon in seinen poetischen Gefühlsstudien über junge Menschen in einer Phase des Übergangs. In „La drôlesse“ („Ein kleines Luder“, 1979) bobachtet er zwei jugendliche Außenseiter in der Normandie, um über die Probleme Heranwachsender zu sprechen, die sich hier ein Refugium gegen die Zumutungen der Erwachsenenwelt schaffen.
La drôlesse; © Gaumont
Das ernüchternde Portrait der intellektuellen Nachkriegsjugend von Saint-Germain-des-Prés als Abgesang auf das Scheitern der Revolte hat schließlich Jean Eustache auf unnachahmliche Weise in seinem legendären, fast vierstündigen Film „La maman et la putain“ („Die Mama und die Hure“) von 1973 gestaltet. In langen Gesprächen und Debatten zeichnet Eustache das Dreiecksverhältnis zwischen einem Pariser Müßiggänger (gespielt von Jean-Pierre Léaud) und zwei jungen Frauen. Dabei bezieht der in langen Einstellungen und in Schwarzweiß gedrehte Film seine Intensität gerade aus seiner bewusst distanzierten, jegliche Dramatisierung vermeidenden Inszenierungskunst, die sich einer hierarchischen Erzählweise verweigert. Denn, so Jean Eustache: „Mein Sujet aber ist gerade die Weise, wie sich wichtige Handlungen einflechten in einen Zusammenhang bedeutungsloser Handlungen. Das ist die Beschreibung des normalen Handlungsablaufs ohne die schematische Verkürzung der kinematographischen Dramatisierung.“
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Der weibliche Atem des Kinos
Einen zweiten Schwerpunkt innerhalb der Retrospektive bildet das feministische Kino, das sich als Reaktion auf die gesellschaftlichen Umwälzungen verstehen lässt. In Nelly Kaplans ziemlich subversiver, antibürgerlicher Satire „La fiancée du pirate“, bereits 1969 entstanden und in Deutschland unter dem frivol-anarchischen Titel „Moneten für das Kätzchen“ veröffentlicht, revoltiert ein sexuell ausgebeutetes Dienstmädchen (Bernadette Lafont) gegen ihre kleinbürgerlichen Unterdrücker. Nach dem Tod ihrer Mutter dreht die hübsche Außenseiterin kurzerhand den Spieß um und setzt ihren Körper als Waffe gegen eine heuchlerische, von Männern dominierte Gesellschaft ein. Dabei portraitiert Kaplan mit komödiantischen Mitteln deren moralische Verkommenheit.
La fiancée du pirate; © Lobster Films
Auch Michèle Rosier, die zunächst als Modejournalistin und Designerin reüssierte, beschreibt die neu gewonnenen Freiheiten in einer sich schnell verändernden Welt mit einem ironischen Unterton: „Auch wenn es unsere Aufgabe ist, Liebe zu geben, so haben wir doch auch eine Seele.“ In ihrem Film „Mon cœr est rouge“ („Mein Herz ist rot“) von 1976, der mit einer Reminiszenz an Godards „Le mépris“ („Die Verachtung“, 1963) beginnt und mit einer Klavier-Improvisation von Keith Jarrett unterlegt ist, befragt eine Marktforscherin im Auftrag eines Kosmetikunternehmens Frauen zu ihren Make-up-Gewohnheiten und erlebt nebenbei eine romantische Liebe. Allerdings ist Rosiers Film widerständig genug, um in einer Drag-Show berühmter Geistesgrößen zu münden.
Weniger kämpferisch, im Tonfall melancholisch und inhaltlich einem Gefühl existentieller Einsamkeit auf der Spur sind Philippe Garrels experimentelle Portrait-Studie „Les hautes solitudes“ (1974) sowie Chantal Akermans moderner Klassiker „Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles“, der sich auf stilistisch eindringliche Weise und mit einem dezidiert weiblichen Blick dem monotonen Alltag einer Hausfrau widmet, die sich außerdem prostituiert. „Vielleicht ist dieser Film ein Liebesfilm über meine Mutter“, hat die belgische Regisseurin gesagt. Auch die beiden Kartenabreißerinnen in Marie-Claude Treilhous Debütfilm „Simone Barbès ou la vertu“ („Simone Barbès oder die Tugend“, 1980) befinden sich zunächst in einem geschlossenen Raum. Das Foyer des Pornokinos Cinevog Montparnasse mit seinen eilig vorbeihuschenden Männern öffnet zugleich eine Spannung zum anonymen städtischen Außenraum, in dessen Gewebe aus nächtlicher Einsamkeit und Verlorenheit die Titelheldin schließlich eintaucht.
Les hautes solitudes; © Philippe Garrel
Paul Vecchialis Film „L’étrangleur“ („Der Würger mit dem weißen Schal“, 1970) ist ebenfalls ein atmosphärisch dichtes Nachtstück, allerdings mehr mit einer somnambulen, unwirklichen, rätselhaften Aura. Der 1930 geborene, nach wie vor aktive Filmemacher und Schriftsteller war besonders in den 1970/80er Jahren mit seiner Produktionsfirma Diagonale, der „letzten großen Schule im französischen Kino nach der Nouvelle Vague“, wie der 1972 geborene Regisseur Serge Bozon meint, eine Schlüsselfigur des unabhängigen Films in Frankreich und damit Mentor der Post-Nouvelle-Vague. Über ihn, der eine umfangreiche Enzyklopädie zum französischen Film der 1930er Jahre erstellt hat, sagte einst François Truffaut: „Paul Vecchiali ist der einzige Erbe von Jean Renoir.“
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Trostlose Ausweglosigkeit
Zwei Filme der ambitionierten Auswahl beziehen sich auf das vom Film Noir beeinflusste Genre des Polizeifilms, der in Frankreich Polar genannt wird, und verbinden dieses mit einem sozialrealistischen Blick auf die Gesellschaft. Das illusionslose Leben der Außenseiter, Gestrandeten und Drogensüchtigen steht im Mittelpunkt der Milieustudie „Neige“ („Schnee“, 1981), den die Schauspielerin Juliet Berto zusammen mit dem linken Filmemacher Jean-Henri Roger realisiert hat. Mit halbdokumentarischem Gestus zeichnen sie zugleich ein Portrait des Stadtviertels Pigalle. Auch Claude Berri schildert in seinem nachdunklen Rachedrama „Tacho Pantin“ („Am Rande der Nacht“, 1983) Paris als Ort trostloser Ausweglosigkeit. Vorurteilsfrei blickt er auf Armut, Arbeitslosigkeit und Drogensucht und folgt dabei dem Weg eines Lebensmüden in die Dunkelheit.
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Dritte Generation
Blickt man auf die Filmauswahl der Festival-Retrospektive, erscheint der Begriff einer sogenannten „zweiten Generation“ der Nouvelle Vague zunächst leicht unscharf und überdeterminiert. Denn oft handelt es sich bei den hier Subsumierten um Filmschaffende, die als Generationsgenossen der Nouvelle-Vague-Regisseure gelten können. Sie arbeiteten teils parallel und manchmal auch im Schatten von diesen. Auch ist die ästhetische Widerspiegelung gesellschaftlicher Veränderungen in ihren Werken kein Alleinstellungsmerkmal, sondern beispielsweise auch in den Filmen von Jean-Luc Godard und Jacques Rivette zu finden. Das dezidiert politische Kino wiederum, das sich der etablierten Filmindustrie verweigerte und traditionelle Erzählformen dekonstruierte, kommt in der Auswahl nicht vor. Auch kann man darin Arbeiten von André Téchiné und Olivier Assayas vermissen. Gerade letztgenannter hat sich unter dem Einfluss von Guy Debords Situationismus und eigener Jugenderfahrungen immer wieder mit dem Erbe des Mai 68 auseinandergesetzt.
Die Rede von einem „zweiten Atem“ beinhaltet insofern mehr Einfluss von der Nouvelle Vague als Abgrenzung von ihr; der ästhetische Bruch erscheint also nicht wirklich radikal. Auffallend hingegen ist die Hinwendung zu stärker persönlichen und autobiographischen Stoffen in den Filmen der Post-Nouvelle-Vague und hier wiederum besonders bei den Regisseurinnen eines feministischen Kinos. Wo andererseits das überlieferte Genre zur Bezugsgröße wird, integriert dieses zunehmend handfeste soziale Realitäten. Ein besonderes Verdienst der Reihe ist es außerdem, dass sie auf die hierzulande weitgehend unbekannten Arbeiten von Paul Vecchialis Produktionsfirma Diagonale aufmerksam macht. Die unter ihrem Dach produzierten und geförderten Filme sind mittlerweile selbst zur Inspirationsquelle für eine weitere, vielleicht „dritte Generation“ von Filmschaffenden geworden – gewissermaßen einer Post-Post-Nouvelle-Vague.